090 - Die Totenwache
Verlorenen hüllten mich wie das Gespinst einer Riesenspinne ein. Ich preßte beide Hände gegen die Ohrmuscheln. Doch damit vermochte ich das Kreischen nicht abzuwehren. Es drang bis tief in mein Innerstes und erschütterte mich.
„Hört auf! Hört doch endlich auf!"
„Gib ihr den Spiegel", forderten die Geister. „Gib ihr den Spiegel! Dann wird uns die Prinzessin nicht länger quälen, und du hast deine Ruhe!"
„Ich kann ihr den Spiegel nicht geben", preßte ich erschöpft hervor.
Im selben Augenblick setzte das infernalische Heulen und Zetern wieder ein.
„Hört endlich auf damit!" rief ich.
Auf der düsteren Stiege flirrte es geheimnisvoll. Ein Geist versuchte, sich zu rematerialisieren. Für einen kurzen Augenblick wurde die Gestalt einer jungen Frau sichtbar.
Ich hätte alles getan, um ihr zu helfen, doch ich durfte Ys-Dahut auf keinen Fall den Spiegel aushändigen. Ich befand mich in einer entsetzlichen Zwangslage. Die Leiden der Opfer verlangten meinen Einsatz. Ich mußte ihnen helfen. Doch auf der anderen Seite durfte ich die Macht der Hexe auf keinen Fall vergrößern.
Ich sah mich in der grotesken Situation eines Feldherrn, der mit einer kleinen Schar von Soldaten Hunderttausenden das Leben retten konnte. Doch er wußte auch, daß seine Soldaten dabei umkommen würden. Hundert Menschen gegen einige hunderttausend - das war hier die Frage. Mein Entschluß stand fest. Ich brauchte nicht länger darüber nachzudenken. Ich durfte mich durch das sirenenhafte Gejammer der Opfermenschen nicht blenden lassen. Ich mußte immer an die Rettung der ganzen Weltbevölkerung denken. Die Rettung der Menschheit war wichtiger als die Rettung dieser Opfer - und wichtiger als mein Leben!
Die Stimme eines Mannes wandte sich an mich.
„Ich bin Costa. Ich kontrolliere den Heroinschmuggel in London. Gib ihr den Spiegel, und ich verrate dir mein Versteck. Du wirst Stoff im Wert von einer Million Pfund entdecken!"
„Höre nicht auf ihn", meldete sich eine andere männliche Stimme. „Ich habe den Schuft gejagt, weil er meine Tochter süchtig gemacht hat. Er hat seine gerechte Strafe bekommen. Jetzt leidet er wie all die unschuldigen Opfer, die durch sein Teufelszeug in der Gosse umgekommen sind."
„Gib ihr den Spiegel!"
„Bitte - gib ihr den Spiegel!"
Plötzlich erstarb das Winseln. Über mir ertönte das Knacken von Dielen.
Ich blickte auf, konnte aber nichts erkennen.
Im selben Augenblick brach der Skelettkrieger durch die Türfüllung. Seine Knochen schimmerten wie poliertes Elfenbein. Mit ausgestrecktem Schwert stürmte er auf mich zu.
Zurück konnte ich nicht mehr. Mir blieb nur der Weg nach oben offen. Ohne nachzudenken schwang ich mich über das Treppengeländer. Das Skelett stakte langsam über die Stufen. In wenigen Augenblicken war ich oben. Sämtliche Türen standen offen. Die Vorhänge waren zugezogen worden.
Der große Salon vor mir war von geisterhaftem Licht erfüllt.
Jetzt stand der Skelettkrieger hinter mir. Ich wich seinem mörderischen Schwertschlag geschickt aus. Dabei rutschte der Spiegel aus dem geöffneten Hemd. Ich riß ihn an mich und rannte in den Salon.
„Ausgezeichnet, Dorian", sagte die Stimme der blonden Hexe. „Jetzt hast du nach all den Aufregungen doch noch den Weg zu mir gefunden."
Sie streckte ihren verführerischen schönen Körper, und sie schien von innen heraus zu glühen. Ihre Haut schimmerte wie feinste Jade, und ihre Bewegungen waren gleitend wie die einer Katze.
„Gib mir den Spiegel, Dorian!"
Ich schüttelte hartnäckig den Kopf.
Neben der Hexe tauchte plötzlich Norman Moore auf. Er machte einen unterwürfigen Eindruck. Mein Verdacht hatte sich bestätigt: Dieser Mann führte der Hexe ständig neue Opfer zu.
Ich überlegte krampfhaft, wie ich den Mann für meine Zwecke gewinnen konnte. Vielleicht ließ er sich zu einer unbedachten Handlung hinreißen, wenn ich ihn dazu reizte.
„Narr!" sagte ich zu Moore. „Glauben Sie wirklich, die elende Hexe würde Sie verschonen? Wenn sie ihr Ziel erreicht hat, wird das Skelett Sie ebenfalls in einen gespenstischen Schemen verwandeln. Sie sind verloren!"
Norman Moore hob den Kopf und sah seine angebetete Ys-Dahut traurig an.
„Du wirst mich doch beschützen, nicht wahr?"
Die Hexe lachte glockenhell auf. Sie wiegte sich verführerisch in den Hüften und gurrte: „Aber selbstverständlich, Norman. Du bist jetzt mein Begleiter. Du hast überhaupt nichts zu befürchten." „Geben Sie ihr den Spiegel",
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