0903 - Der Schattenkelch
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»Zehen!«, schimpfte Agamar und umklammerte den Kelch. »Zeit zu beginnen!«
Er schleuderte einen Blitz auf die gleiche Stelle, die er nun schon seit Jahren traktierte.
Als er das erste Mal beobachtet hatte, dass sich für einen Augenblick ein winziges Tor öffnete, hatte er sofort die Hand hindurchgestreckt. Doch noch bevor er den Rest seines Körpers durchzwängen konnte, schloss sich das Tor und schnitt ihm die Hand ab. Es waren lange, schmerzhafte Wochen gewesen, bis sie endlich wieder nachgewachsen war! Nach weiteren 271 gescheiterten Versuchen hatte er eingesehen, dass er selbst das Gefängnis auf diesem Weg nicht würde verlassen können. Aber der Kelch! Er war klein genug, um sich nicht durch den Tunnel zwängen zu müssen.
Er schleuderte den nächsten Blitz hinterher.
Das Tor öffnete sich! Bevor es wieder in sich zusammenstürzen konnte, schleuderte Agamar den Kelch mit aller Wucht hindurch.
Dass er dabei einen Menschen tötete, der in der Flugbahn stand, bemerkte er genauso wenig wie die Tatsache, dass mit dem Kelch auch die Seele eines Weißmagiers in die Welt zurückkehrte.
***
Dòmhnall seufzte, als er seinen Bericht beendete. »Agamar wurde in seiner Gefangenschaft noch wahnsinniger, als er ohnehin schon war. Erst unterhielt er sich nur mit den Schattenhunden, danach mit sich selbst und am Ende sogar mit seinen Zehen! Er hat jeder einzelnen von ihnen einen Namen gegeben, kannst du dir das vorstellen? Ohne Unterlass plapperte er vor sich hin. Und ich habe zugehört und gelernt.«
»Luynes wurde also gar nicht ermordet! Es war eher… nun ja, ein Unfall. Und die Bildstörung in der Zeitschau war deine Seele und kein unsichtbarer Mörder.« Zamorra presste die Lippen aufeinander und atmete durch die Nase tief ein. »Acht Schattenhunde! Das sind verdammt viele!«
Dòmhnall nickte. »Inzwischen sind es aber nur noch fünf.«
Der Professor zog eine Augenbraue hoch. »Madame Rosalie und die anderen?«
»Ja. Sie waren Wirte.«
»Gab es keine andere Möglichkeit, sie davon zu befreien?«
Dòmhnall verzog das Gesicht. Er wirkte aufrichtig betrübt. »Ich war ein Magier der weißen Künste, Zamorra! Glaubst du, ich hätte sie getötet, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte? Wer von einem Schattenhund besessen ist, ist unrettbar verloren. Er ist tot in dem Moment, in dem Agamars Diener in ihn eindringt. Er weiß es nur noch nicht. Aber es reicht nicht aus, den Wirt zu töten! Der Schattenhund hätte trotzdem Gewalt über ihn. Nein, man muss ihre Herzen verbrennen, denn in ihnen haben sich diese Wesen eingenistet.«
»Verstehe«, sagte Zamorra. »Aber es gefällt mir ganz und gar nicht!«
»Dem Kelch zu folgen, war eine undurchdachte Handlung«, fuhr der Weißmagier fort. »Ich wusste nicht, was ich als körperlose Seele gegen Agamar ausrichten sollte. Aber es zeigte sich, dass die Bedenken unbegründet waren, denn plötzlich fand ich mich im Körper Alain Albeaus wieder. Ich nehme an, er war der erste, der… nun ja, frei war.«
»Hätte das nicht Clement Luynes sein müssen? Schließlich ist er in dem Moment gestorben, in dem du fliehen konntest.«
Dòmhnall zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war er nicht sofort tot. Vielleicht war er auch durch den Schattenhund blockiert, der beim Aufprall des Kelchs in ihn einfuhr. Ich weiß es nicht.« Er machte mit den Armen eine sich selbst präsentierende Geste. »Ich hätte mir aber etwas Besseres gewünscht, als das hier.«
»Es hätte schlimmer kommen können«, sagte Zamorra. »Beispielsweise ein Säugling oder ein bei einem Unfall völlig zerschmetterter Körper. In ihnen wärest du handlungsunfähig gewesen! Wie kommt es überhaupt, dass du solche Kräfte hast?«
»Die magischen Kräfte habe ich mir offenbar aus meiner früheren Existenz bewahrt. Und körperlich habe ich keine größeren Kräfte als andere. Ich spüre nur keine Schmerzen und kann deshalb Grenzen überschreiten, die ein Lebender nicht überschreiten würde. Aber Alain Albeau ist tot! Er wird früher oder später zerfallen und dann werde ich mich nicht länger in ihm halten können.« Er lachte auf. »Ich, Dòmhnall, ein Magier der weißen Künste, bin ein Untoter! Was für eine Ironie!«
»Das erklärt auch, warum das Amulett in deiner Gegenwart warm geworden ist, dich aber nicht angegriffen hat. Anscheinend konnte es sich nicht entscheiden, ob du ein guter Weißmagier oder ein böser Untoter bist.«
»Es ist auch durchaus denkbar, dass ich in meiner
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