0903 - Nächte der Angst
Male war sie nur haarscharf Unfällen entgangen. Vera Tanner gehörte zu den Berufstätigen, die das Glück hatten, an der Arbeitsstelle parken zu können. Das Gelände gehörte zur Kirche, die es wie ein großer Wächter überragte, der sich einen braunroten Mantel übergestreift hatte, denn so und nicht anders wirkte das alte Mauerwerk mittlerweile. Umgeben war es von einer Wiese mit altem Baumbestand.
Die Parkplätze lagen an der Rückseite der Kirche, wo auch das kompakte Pfarrhaus stand, in dem Vera arbeitete.
Daß sie sich verspätet hatte, wußte sie, doch darum kümmerte sie sich nicht. Die knappe Stunde würde man ihr verzeihen. Normalerweise hätte sie sich in ihrem Zustand krankschreiben lassen können, aber die Ärzte fragten auch nach Gründen, und da hätte sie passen müssen.
Vera Tanner parkte den Fiesta neben einem alten Benz. Er gehörte Sixton Wingate, dem Pfarrer.
Auch wenn das Fahrzeug nicht mit einem Katalysator ausgerüstet war, der Mann würde es nie hergeben. Er liebte den Wagen heiß und innig.
Vera stieg aus und fröstelte. Es lag nicht nur am Wetter. Sie fühlte sich matt, ohne Drive, und sie hoffte, daß man ihr den Zustand nicht anmerkte.
Die Umgebung zeigte ein winterliches Bild. Kahle Bäume und triste Farben.
Der normale Verkehr floß um diese Kircheninsel herum. Obwohl mitten in der Stadt- gelegen, wirkte der Platz doch sehr fremd, und so sollte es auch sein, wie der Pastor immer meinte. Die Kirche als Oase, in der Menschen Ruhe fanden vor der Hektik des Alltags.
Vera schloß den Wagen ab. Den Riemen der Tasche hängte sie über ihre Schulter, den Kragen der Jacke hatte sie hochgestellt. Dann ging sie auf den Anbau zu. Sie mußte dabei die Kirchenfront an der Westseite passieren. Auch hier teilte ein schmaler Weg das winterlich braune Gras.
Selbst am Tage warf das hohe Gebäude einen schmalen Schatten. Die Fenster sahen düster aus, das Dach schimmerte grau. Einige Tauben hatten darauf ihre Plätze gefunden.
Die junge Frau sehnte sich nach dem Sonnenschein. Sie wollte das natürliche Licht tanken und nicht immer im künstlichen sitzen.
Und dann sah sie Lou Ryan!
Er hatte dicht an der Wand gelauert und den richtigen Moment abgepaßt. Drei Schritte ging er nach vorn, um in den Sichtbereich der Frau zu gelangen.
Vera blieb augenblicklich stehen. Sofort schlug ihr Herz schneller, die Hitze stieg in ihr Gesicht, sie begann zu zittern, was Lou natürlich merkte und ihm noch mehr Überlegenheit gab. Er legte den Kopf leicht schief und stemmte seine Hände in die Hüften. Das Lächeln auf seinen Lippen war schmierig, siegessicher und auch wissend. Er war dunkel gekleidet. Die schwarze Lederjacke glänzte, die Hose lag um seine Beine. Das blonde Haar hatte er gescheitelt, das glatte Gesicht wirkte irgendwie farblos, doch in den Augen funkelte es. Dieser Ausdruck ließ Vera Tanner schaudern. Sie traute sich nicht, an Lou Ryan vorbeizugehen, außerdem versperrte er ihr den Weg.
»Guten Morgen, meine Liebe…«
Worte wie Seife. So glatt, so unnatürlich, einfach ekelhaft. Vera riß sich zusammen. »Was willst du?«
»Ich wollte dich sehen.«
»Warum?«
»Weil ich dich mag. Schließlich haben wir zusammen eine irre Nacht verbracht.«
Verdammt! dachte sie. Er weiß genau, wie er mich seelisch foltern kann. Er hat mich in der Hand.
Wenn er bei gewissen Stellen erzählt, was wir getrieben haben, dann bin ich meinen Job los. Und wieder stieg die Röte in ihr Gesicht. »Dafür schäme ich mich auch.«
»Das ist egal, Vera. Passiert ist passiert.«
»Ja, aber ich will es vergessen.«
Lou Ryan hob seine blassen Augenbrauen an. »Vergessen? Du willst es vergessen?« Er lachte glucksend. »Das bleibt dir unbenommen, aber sei versichert, daß ich es nicht vergessen werde. Ich werde dich immer daran erinnern, Vera.«
»Und was willst du jetzt?«
»Die erste Erinnerung.«
Sie zitterte und ärgerte sich darüber. Sie schnappte nach Luft, kam sich so allein vor. »Ich will nicht daran erinnert werden. Ich hasse dich, Lou! Ja, ich hasse dich!«
Er lachte sie wieder aus. Diesmal lauter. »Hassen, Süße? Du kannst doch gar nicht hassen. Wenn ich will, vielleicht schon heute abend, wirst du dich ausziehen, wirst mit mir ins Bett gehen, und dort Dinge treiben, die du im Augenblick ablehnst.« Er bewegte seine Finger, als wollte er Geld zählen.
»Weißt du, was du bist, Vera? Du bist Wachs in meinen Händen, einfach nur Wachs. Ich kann dich formen, ich kann dich fertigmachen, du wirst
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