0907 - Imperium der Zeit
privates Refugium. Hier findet er immer die nötige Ruhe, Distanz zu den Dingen, die ihn quälen. So auch in dieser Nacht.
Roland Kaiser säuselt aus der noch offen stehenden Wagentür ein peinliches Liebeslied in die Stille, und Johann bemerkt mit einem Mal, dass er den Wagen noch angelassen hat. Radio, Licht und Motor laufen, doch irgendwie bringt Johann es nicht über sich, noch einmal zurückzugehen und den Zündschlüssel umzudrehen. Soll er doch singen, der Roland. Hier hört ihn ohnehin niemand mehr. Hier gibt es nur Ruhe und Frieden.
Zwei Raben krächzen in der Ferne, weiße Flecken auf einem silbrigen Himmel, fliegen näher und lassen sich auf den Ästen des alten Apfelbaumes nieder. Weitere folgen ihrem Beispiel, bis schließlich der ganze Baum voller Raben ist. Ein einsamer Regionalexpress schlängelt sich an der Mosel entlang seinem Ziel entgegen. Irgendwo singt eine Eule ihr Lied.
Johann…
Der Ruf erklingt so plötzlich, dass Johann ihn zunächst kaum wahrnimmt. Erst als er wiederholt wird, lauter und nahezu flehend, dreht er sich um.
Johann…
Es liegt ein Bitten in diesem Wort, unbeschreibliches Leid und ein Bedürfnis, das nur er, nur Johann Bechtel, stillen kann - das weiß er mit einem Mal so sicher, wie er seinen eigenen Namen kennt. Dass er die Stimme nur in Gedanken hört, fällt ihm schon gar nicht mehr auf, so verzaubert ist er von ihr. So… berührt.
Johann…
Mit schnellen Schritten nähert er sich der Bank und den Römersteinen, die er so mag. Er lacht, als er sie sieht, plötzlich auf, freudig wie ein kleines Kind, denn die schweren und alten Steinklötze strahlen mit einem Mal in einer wunderschönen Farbe. Ein rötliches Leuchten geht von ihnen aus und wirkt wie ein Riss in dieser Welt der schwarz-weißen Leere. Wie ein Farbkleckser aus der Palette eines unbekannten Malers, der seiner monotonen Schöpfung endlich das Kleid verpassen will, das zu ihr passt.
Ein leeres, breites Grinsen erscheint auf Bechtels Gesicht.
Johann…
»Ja!«, seufzt er laut auf, dankbar darüber, erwählt worden zu sein. Er fällt auf die Knie, in den Staub vor den glühenden Wundersteinen. Nur für sie hat er noch Augen, nur für sie. Speichel tropft aus seinem geöffneten Mund auf sein Hemd, doch Johann beachtet ihn nicht. Er achtet auf gar nichts mehr, denkt gar nichts mehr, außer an die Steine. Steine, die seine Hilfe brauchen. »Ja, ich bin hier«, frohlockt er selig.
Öffne deinen Geist…
Johann gehorcht, willentlich und oh, so dankbar. Bilder überfluten sein Bewusstsein, Anweisungen, die er nicht versteht, aber auch nicht verstehen muss, denn er weiß, dass sie gut, dass sie richtig sind. Sie sagen es ihm, und wer ist er, ihre Weisheit anzuzweifeln?
Die Bilder geben ihm einen Text ein, den er aufsagen soll, und Johann hebt die Stimme und beginnt. Ein Rabe flattert heran, setzt sich neben ihn auf die Erde, und Johann greift in seine linke Hosentasche, entnimmt ihr das Schweizer Armeemesser mit der scharfen Klinge, und sticht das regungslos verharrende Tier ab, wie es ihm die Bilder aufgetragen haben. Dann hebt er es hoch und lässt das Blut des Raben auf die Steine tropfen. Auf die glühenden, sprechenden Steine. Den schönsten Anblick der Welt.
***
Das Knacken des Holzes im Kamin riss Bechtel aus der Vision, der Rückblende an jene furchtbare Nacht im Weinberg. Stöhnend vor Verzweiflung atmete er aus und bemerkte überrascht, dass sein Atem kleine Kondenswölkchen bildete. Als wäre es plötzlich tatsächlich so bitter kalt geworden, wie er es schon die ganze Zeit empfand.
Johann schluckte trocken. »Was… was habe ich getan?«, fragte er und fürchtete sich doch vor der Antwort.
Die Stimme in seinem Rücken lachte leise. »Weißt du das nicht mehr? Wirklich nicht? Oder willst du es nur nicht wissen? Du sahst so glücklich aus in jener Nacht. Was muss ich dir noch zeigen, um dich wieder dahin zu bekommen, wo du damals warst?«
»Das… war nicht ich!«, protestierte der Winzer halbherzig. »Das… Du hast etwas aus mir gemacht, das ich nicht bin. Du hast mich beeinflusst, hast mir Worte in den Mund gelegt. Das warst du doch, oder? Dieses Flehen, dieses leise Flüstern?«
Die Stimme schwieg, wie zur Bestätigung seiner Vermutung.
»Und warum?«, setzte Johann nach. »Warum ich, was soll das alles?«
»Habe ich dir längst erklärt«, sagte der Unheimliche, und ein erneuter Schauder lief über Johanns Rücken, als er die Ungeduld in der Stimme seines nächtlichen Besuchers
Weitere Kostenlose Bücher