0907 - Imperium der Zeit
das Bücherregal, das rechts von ihm an der Wand stand, zog einen dieser unsäglichen Eifelkrimis heraus, die Gudrun so liebte, und legte an, den dicken Wälzer nach dem Tier zu werfen.
Und er blieb wie festgenagelt stehen, als plötzlich eine Stimme in seinem Rücken ertönte!
»Das würde ich dir nicht raten, Johann«, sagte sie, und Bechtel spürte, wie seine Knie weich wurden und ein eiskalter Schauer über seinen Rücken lief. »Wirklich, du solltest nicht einmal daran denken!«
Und Johann Bechtel, der mit einem Mal genau wusste, wer da hinter ihm sprach ( ein Wesen aus Nacht, mit einer Stimme, die Welten zum Einsturz bringen könnte ), ließ das Buch fallen.
***
Holz knackte, und das Licht des Feuers im Kamin warf Schatten in den Raum. Sie tanzten über die Wände und Möbel, über den teuren Teppich und den Hirschkopf, auf dem noch immer der Rabe saß. Doch was Johann noch vor wenigen Minuten so behaglich vorgekommen war, wirkte nun wie eine Szene aus einem Albtraum. Jede Bewegung der Schatten, die die Flammen verursachten, ließ ihn stumm zusammenzucken. Jeder Laut der Scheite im Feuer war wie der Angriff, auf den Johann wartete. Der ihm unvermeidlich schien.
Der Winzer wagte es nicht, sich zu bewegen. Denn der Dunkle Mann war hier und das Ende nah.
»Dreh dich nicht um«, flüsterte die Stimme hinter ihm, und ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch. Bechtel schluckte. »Und nun«, fuhr sie fort, »lass uns reden.«
»W… worüber?«, fragte jemand, und Johann erschrak, als er merkte, dass er es selbst war.
Ein Lachen, kurz und knarzend, wie altes Leder. »Na, über dich. Über den Grund, aus dem du mich gerufen hast.«
Gerufen? Er verstand nicht. Er hatte niemanden gerufen, ganz sicher nicht. Vorsichtig schüttelte er den Kopf. Kalter Schweiß lief ihm den Nacken hinab.
»Reden wir doch über dein Problem«, sagte die Stimme, und Johann schielte instinktiv zu den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Kurz flammte der Gedanke an den Revolver in der Schublade in seinem Geist auf, aber er war sinnlos. Der Dunkle hätte den Winzer zerfleischt, noch bevor er auch nur in die Nähe seiner Waffe gekommen wäre, das wusste er.
»Reden wir darüber«, fuhr die Stimme fort, »wie wir deinen Karren noch aus dem Dreck ziehen können. Denn das Wunder, das dir so unerreichbar erscheint… Nun, sagen wir so: Ich könnte an entsprechender Stelle ein gutes Wort für dich einlegen. Verstehst du?«
»Aber wie?«, fragte Johann schließlich, trotz seiner offenkundigen Angst, und hasste sich innerlich selber dafür. »Es ist doch längst zu spät, um noch zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Das hat Kreiner mir heute eindringlich klar gemacht. Dafür ist keine Zeit mehr.«
Der Fremde lachte abermals. »Bist du etwa nicht deswegen zu mir gekommen, letzte Nacht? Hast du mich etwa nicht gebeten, dir in deiner Krise beizustehen?«
»Beizu…« Johann begriff nichts mehr. Gelähmt vor Angst stand er da und hörte den unglaublichen Aussagen des Dunklen zu. Letzte Nacht? Wieder kehrten seine Gedanken zu dem Bild zurück, an das er sich heute Nachmittag erinnert hatte: an die rötlich glühenden Römersteine, deren Licht den Weinberg erhellt hatte. Er erinnerte sich an den Lockruf der Steine, an den Vollmond, der über den Rebstöcken im dunklen Himmel gehangen hatte, wie ein fahler Totenkopf, und an den kahlen Apfelbaum. Und jetzt, da er das Bild erneut vor Augen hatte, sah er, dass die Äste des Baumes mit einem Mal dicht und voll waren.
Voller Raben.
***
Die Welt ist schwarz in dieser Erinnerung. Schwarz und dann doch wieder weiß, wie das Negativ eines Bildes aus der Kamera eines wahnsinnigen Fotografen. Groß hängt der Vollmond über dem Hang, ein schwarzes Loch in einem gleißend hellen Nachthimmel, und sein pechfarbenes Licht lässt dunkle Schlieren auf der träge durchs Tal fließenden Mosel tanzen. Es bricht sich auf den Dächern des in friedlichem Schlummer liegenden Triers, auf dem Dach von Johanns altem Mercedes, und es taucht die unzähligen Reihen aus Rebstöcken und Trauben in eine gnädige Dunkelheit, für die Johann - der Gegenwarts-Johann, der noch immer stocksteif in seinem Büro steht und unfreiwilliger Zeuge des folgenden, grauenhaften Schauspiels wird - dankbar ist.
Doch in der Erinnerung steht Johann auf dem Weinberg und blickt hinab ins Tal. Kühler Nachtwind streicht durch seine Haare und vertreibt die Sorgen, die den alten Winzer Stunden zuvor noch geplagt hatten. Dies ist sein Ort, Johanns
Weitere Kostenlose Bücher