0913 - Das Gespenst
sah es als Warnung seiner Sinne an. Irgend etwas stimmte in dieser Umgebung nicht, und er war dabei, es zu beobachten. Die Kälte hockte in seinem Innern, die Gänsehaut lag auf seinen Händen.
Du bist verrückt! Schimpfte er sich selbst aus. Du bist zu lange allein gewesen, du hast dich selbst zum Narren gemacht. Er wollte wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren, nickte sich dann selbst zu, weil er sich entschlossen hatte, den Tatsachen jetzt objektiver ins Auge zu schauen, und richtete den Blick abermals auf die Kapelle.
Der Schatten war verschwunden.
Hansen lächelte. Er atmete tief durch, und es ging ihm plötzlich besser. »Na bitte«, sagte er sich.
»Du bist ein alter Esel, der sich durch irgendeine Luftspiegelung aus dem Konzept bringen läßt. So etwas passiert sonst nur Menschen, die einen Haschmich haben.«
Dieser Monolog hatte ihm gutgetan. Die Kapelle war und blieb nach wie vor sein Ziel. Er würde hingehen, er würde dort die Nacht verbringen, um am nächsten Morgen weiterzuziehen. Nach Süden, nach Südosten, ihn lockte das Meer.
Dennoch lief er nicht mehr so locker und unbeeindruckt wie sonst. Der Schatten wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf, und die halb zerstörte Kapelle hatte etwas Bedrohliches für ihn bekommen, das auch weiterhin noch blieb…
***
Mary Sinclair glaubte an einen Traum, an eine schreckliche Illusion. Das konnte nicht sein, das war unmöglich. Sie bildete sich diesen Schrecken nur ein.
Nein, es war keine Einbildung. Es stimmte.
Und der Druck der beiden Hände, die ihrem Mann Horace gehörten, war ebenfalls vorhanden.
Sie wollte reden. Ihr Mund stand offen, aber es drang kein Laut über ihre Lippen. Nur ein Geräusch, vor dem sie sich selbst erschreckte, verließ ihren Mund, gleichzeitig winkelte sie ihre Arme an und stützte sich mit beiden Ellbogen auf der weichen Unterlage der Couch ab.
Das war der Augenblick, wo Horace Sinclair seine Frau losließ. Seine Hände schnellten von ihrem Hals weg. Er selbst taumelte zurück, streifte dabei einen Stuhl, der beinahe umgekippt wäre und gegen die Tischkante prallte. Sinclair selbst hatte dicht neben der Tür an der Wand seinen Halt gefunden. Er stand dort, er starrte ins Leere, er schaute auf seine Hände, und er zitterte wie jemand, der unter starker Kälte litt.
Ein schreckliches Geräusch durchdrang die Stille im Zimmer. Es war ein furchtbares Keuchen und es floß abgehackt aus dem weit geöffneten Mund der Frau. Mary Sinclair lag noch immer auf der Couch. Sie war einfach nicht in der Lage, sie zu verlassen. Die Hände hatten sehr hart zugegriffen.
Es fiel ihr schwer, Luft zu holen, und sie hatte noch: immer das Gefühl, gewürgt zu werden. Ein Schüttelfrost rann durch ihren Körper, ihr Mund zuckte, im Kopf spürte sie einen schrecklichen Druck, als würde er bald platzen. Alles war anders geworden, und Mary Sinclair konnte noch immer nicht richtig fassen, was hier eigentlich abgelaufen war.
Sie mußte sich erst damit abfinden, daß sie von ihrem eigenen Mann gewürgt worden war. Ihr Mann hatte sie ermorden wollen.
Fahrig bewegten sich die Hände neben ihrem Körper über den Stoff der Couch. Ihr Gesicht war ebenso schweißnaß wie der Körper. Das Haar klebte und die durch das Fenster dringende Helligkeit schmerzte in ihren Augen. Beim Luftholen spürte sie das Kratzen im Hals, als würden dort irgendwelche Nägel scheuern.
Sie weinte, aber es war ein stilles Weinen, und sie spürte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen.
Auf ihrer Brust lag ein Druck, als säße ein schwarzer Alp wie ein Klumpen auf ihrem Körper, und ihr Hals brannte, doch all das konnte sie verkraften. Viel schlimmer war die Tatsache, daß sie von ihrem eigenen Mann angegriffen worden war. Horace, ihr Mann, hatte sie tatsächlich ermorden wollen! Mit seinen eigenen Händen erwürgen.
Darüber kam sie nicht hinweg. Das war einfach zuviel für die alte Frau. Dabei hatte sie sich nur hingelegt, um ein kleines Schläfchen am späten Mittag oder frühen Nachmittag zu halten, und erwacht war sie so grausam.
Warum? Warum hatte Horace dies getan? Nach all den vielen und auch glücklichen Jahren, die beide miteinander verbracht hatten?
Mary Sinclair konnte keine Antwort darauf geben. Es war alles so verrückt, nicht nachvollziehbar.
Geträumt oder eingebildet hatte sie es sich auch nicht, denn die Schmerzen waren real. Mary Sinclair kam mit der Welt, in der sie lebte, nicht mehr zurecht. Sie mußte sich erst wieder neu orientieren
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