0913 - Das Gespenst
nicht verändert und hockte da, als wollte er sich vergraben oder in den Boden hineinkriechen, um nie mehr an die Oberfläche zu kommen.
Der Weg war kurz, doch er kam ihr in diesen Augenblicken mehr als lang vor. Neben Horace ging sie auf die Knie, so daß sich ihre Köpfe lauf gleicher Höhe befanden.
»Horace…«
Er rührte sich nicht.
Mary versuchte es noch einmal und sprach den Namen ihres Mannes jetzt lauter aus, aber sie erntete auch diesmal keine Reaktion. Der Mann war in sich vergraben. Sein Haar hatte er aufgewühlt, er litt unter den Erinnerungen, und das wiederum machte seiner Frau klar, daß er sie zwar hatte erwürgen wollen, es aber im Prinzip nicht gewesen war, denn es mußte ihn da eine andere Macht zu dieser scheußlichen Tat verleitet haben.
So etwas gab es; Mary wußte das. Sie kannte sich inzwischen aus. Allein durch ihren Sohn und auch durch die unheimlichen Fälle, in die sie und Horace hineingezogen worden waren.
»Bitte, Horace…«
Er schüttelte den Kopf.
Mary war für den Moment zufrieden. Diese Reaktion hatte ihr zumindest gezeigt, daß Horace in der Lage war, überhaupt etwas wahrzunehmen, und an diesem Punkt hakte sie ein.
Diesmal beließ sie es nicht beim Sprechen. Sie streckte den linken Arm aus und berührte ihn an der Schulter. Umstoßen konnte sie den Mann nicht, denn die Wand stützte ihn ab. »Horace, mein Gott, sag doch etwas! Ich bin es, ich - Mary…«
Er schluchzte.
»Sag was, Horace!«
Der Mann zitterte. Dann stöhnte er, und plötzlich bewegten sich seine Hände. Zuerst zuckten sie nur, dann rutschten sie langsam an seinem Gesicht nach unten, und Mary, die noch die Fratze zwischen den Würgehänden in Erinnerung hatte, mußte sich eingestehen, daß sich dieser Gesichtsausdruck glücklicherweise verändert hatte.
Horace F. sah jetzt anders aus.
Er wirkte apathisch. Sein Gesicht war aufgequollen und vom Weinen gerötet. Die Haut wirkte alt, verbraucht, der Mund war eingefallen, und immer wieder zuckte das Gesicht, wenn er schluchzte.
Mary Sinclair hatte die Hände ihres Mannes in die ihren gelegt. Sie war in diesem Augenblick die stärkere Person. Sie wußte, daß sie ihrem Mann helfen mußte, denn er steckte in einem Teufelskreis, in den er sich freiwillig bestimmt nicht hineinbegeben hatte.
Sie schaute in seine Augen, die so trübe und verloren wirkten. Da schwammen die Pupillen in einem seichten Tränensee, und wenn Horace seine Frau erkannte, dann bestimmt nicht klar und scharf, sondern wie hinter einer Nebelwand.
Sie lächelte ihm zu.
Er reagierte nicht.
»Horace, ich bin es. Ich, Mary, deine Frau.«
Er stöhnte. Seine Hände zitterten plötzlich. Mary fiel auf, daß sie eiskalt waren. Zunächst wollte sie ihn nicht danach fragen, wie es dazu gekommen war, daß er sie hatte ermorden wollen. Das konnte sie später alles nachholen. Wichtig war zunächst, daß sich Horace erholte.
»Mary«, sagte er.
Die Frau hätte jubeln können, als sie ihren Mann hörte. Und auch die Stimme hatte sich normal angehört. Es war ein Zeichen dafür, daß sich ihr Mann wieder auf dem Weg in die Realität befand und er seine Umgebung sicherlich bald normal wahrnehmen konnte.
»Ja, Horace, du hast recht. Ich bin es. Ich - deine Frau. Erkennst du mich?«
»Sicher.«
Sie atmete auf. »Das ist so wunderbar, Horace, so wunderbar.« Mary mußte ihren Gefühlen einfach freien Lauf lassen. Sie drückte sich vor, holte ihren Mann etwas von der Wand weg und umarmte ihn. Sie wollte ihn spüren, denn er lebte, und dieses Leben war für beide sehr, sehr wichtig, das wußte sie.
Beide Gesichter waren noch tränennaß, und beide zitterten, als würden sie frieren.
Es war für Mary so beruhigend, ihren Mann in den Armen halten zu können. Sie brauchte diesen Druck, sie mußte spüren, daß sie noch lebte. Dieses Gefühl war so drängend, daß sie ihren Mann nie mehr loslassen wollte. Horace bewegte sich. Er stöhnte dabei, und Mary spürte den leichten Druck, als er sie zurückschieben wollte.
Sie gab ihm nach, und sie sah dabei das erste Lächeln um die Lippen huschen.
»Ich denke, wir stehen auf.«
Sinclair nickte.
Mary war und blieb die Stärkere. Sie kam als erste in die Höhe und streckte ihrem Mann die Hand entgegen. »Ich helfe dir dabei, Horace.«
Er faßte mit beiden Händen zu, stemmte die Hacken gegen den Teppich und half mit, auf die Beine zu kommen. Beide standen sich dann gegenüber.
Sie schauten sich an. Jeder versuchte dabei, im Gesicht des anderen zu lesen,
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