0914 - Der Fluch der Sinclairs
entgegenbrachte. Wo Licht ist, da gibt es auch Schatten. Die Menschen sonnten sich zu stark in ihrem Wissen, und sie ließen andere auch spüren, wie reich sie waren, da traten dann verstärkt Anzeichen der Dekadenz und Selbstgefälligkeit auf.«
»Was den anderen natürlich nicht gefiel.«
»Richtig, Mutter.« Ich stand auf und schenkte mir ein Glas Orangensaft ein. Dann setzte ich mich wieder an den Tisch. »Schon lange hatte der nordfranzösische Adel neidvoll auf den Süden geschaut, und er hatte einen mächtigen Verbündeten, die Kirche. Ihr war das Gebiet schon lange ein Dorn im Auge, denn ihre Autorität hatte sie verloren. Dort blühte die Ketzerei, wobei die Würdenträger kaum darüber nachdachten, daß die Menschen im Languedoc der Gewalt abgeschworen hatten. Diese - in kirchlichen Augen - Irrelehre stellte eine Bedrohung für den gesamten Klerus dar. Man fürchtete sich panisch vor einer Ausbreitung, und deshalb mußte etwas unternommen werden. Man bezeichnete die Menschen mit allen möglichen Begriffen, auf einem Konzil aber, das im Jahre 1165 in Albi stattfand, wurden die Lehren offiziell verurteilt, und deshalb nannte man sie Albigenser. Daneben wurde auch der Begriff Katharer verwendet oder Namen alttestamentarischer Sekten, aber das kam seltener vor.«
»Wie waren denn die Lehren der Katharer, John?«
Ich hob die Schultern. »Ich bin kein Historiker und auch kein Kirchenmann, der sich mit den mittelalterlichen Fundamenten des Glaubens beschäftigt, aber wie mir bekannt ist, übernahmen sie von allem etwas, natürlich auch von der katholischen Kirche. Sie bekannten sich zur Lehre der Wiedergeburt und der Gleichheit der Geschlechter in der Religion. Folglich waren ihre Prediger beiderlei Geschlechts, und sie mußten sich natürlich von der römischen Kirche distanzieren. Sie stritten deren Anspruch ab, der Mittler zwischen Gott und den Menschen zu sein. Sie lehnten den Glauben ab, wie die Kirche ihn lehrte. Jeder sollte seine persönliche Erfahrung machen und sich nicht hineinreden lassen. Es galt bei ihnen das Erkennen. Die persönliche Erkenntnis ohne fremde Hilfe. Den Menschen wurden also in religiösen Dingen viel Freiheit gelassen, was die Kirche damals nicht akzeptieren wollte. Außerdem waren die Katharer Anhänger eines strengen Dualismus.«
Meine Mutter hob die Augenbrauen und gab mir Zeit für eine Unterbrechung. So konnte ich einen Schluck trinken.
»Wie darf ich das denn verstehen, John?«
»Nach ihrer Auffassung gab es einen immerwährenden Kampf zwischen Licht und Dunkel, zwischen Geist und Materie, zwischen Gut und Böse, aber nicht wie die damalige Kirche zwischen Gott und dem Teufel. Darüber dachten sie eben anders.«
Meine Mutter verzog das Gesicht. »O je! Wird es jetzt kompliziert, John?«
»Ein wenig schon«, erwiderte ich lächelnd.
»Ich will es trotzdem hören.«
»Keine Sorge, Mutter, ich werde auch nicht mehr lange reden. Die Katharer waren eine Sekte, das muß klar sein. Sie gingen nicht davon aus, daß Gott am Anfang Himmel und Erde erschaffen hatte. Sie sahen ihn als einen Usurpator an.«
»Was ist das denn?«
»Ich habe auch nachschlagen müssen. Es ist jemand, der widerrechtlich etwas an sich reißt. Ein Thronräuber, um es einmal flacher auszudrücken.«
»So etwas ist schlimm, John.«
Ich hob die Schultern. »Das möchte ich jetzt nicht bewerten, Mutter, aber es geht weiter. Die Menschwerdung Christi wurde von ihnen ebenfalls geleugnet. Die meisten Katharer haben Jesus als einen Propheten angesehen, einen Sterblichen, der um des Prinzips der Liebe am Kreuz gestorben war. Somit stellte für sie die Kreuzigung nichts Mystisches, Übernatürliches oder Göttliches dar.«
»Moment mal, John. Wieso Liebe? Weißt du mehr darüber?«
»In etwa, Mutter. Die Katharer erkannten im Gegensatz zur Kirche die Existenz von zwei oder mehreren Gottheiten an. Einer dieser Götter hatte keinen menschlichen Leib. Er war frei von jedem Makel. Es war der Gott der Liebe, Amor genannt. Liebe und Macht kann man nicht verbinden, und die Schöpfung stellte für die Katharer eine gewisse Macht dar. Die Macht war für sie böse, und so war die Schöpfung das Werk eines usurpatorischen Gottes, den sie dann« Rex Mundi », König der Welt, nannten. Wenn sie Jesus als Propheten akzeptierten, dann nur als einen Propheten Amors. Sobald sich aber dieses Prinzip umkehrte und zur Macht wurde, brachten sie diese sofort in Verbindung mit Rom. Und so weigerten sich die Katherer nicht nur,
Weitere Kostenlose Bücher