0918 - Auf der Schwelle der Zeit
komfortabel, aber trotzdem unbewohnt war. Zumindest die meiste Zeit. Und wenn sich der Schlossherr doch einmal sehen ließ, gelang es Anka jedes Mal, in den Weiten der Räume unterzutauchen und sich vor ihm zu verbergen, sodass er nicht die leiseste Ahnung von ihrer Anwesenheit hatte. Die Putzfrau, die alle paar Wochen mal auftauchte, war erst recht kein Problem.
Anka musste sich jedoch eingestehen, dass dieses Leben mit der Zeit fürchterlich langweilig wurde. Zwar bot ihr die Bibliothek eine Auswahl, die sie noch lange Jahre beschäftigen könnte, aber auf Dauer war es trotzdem ermüdend, immer nur zu lesen oder fernzusehen. Tag für Tag für Tag. Auch ihre Spaziergänge boten keine allzu große Abwechslung. Erstens, weil sie die nur nachts machte, um nicht gesehen zu werden. Zweitens musste sie ständig in der Nähe des Schlosses bleiben, wenn sie nicht riskieren wollte, dass…
Mit einem unwilligen Kopf schütteln vertrieb sie den Gedanken, noch bevor er Gestalt annehmen konnte. Was im Augenblick zählte, war Sicherheit, und die fand sie nun mal nur hier! Dafür musste sie in Kauf nehmen, nur ein eingeschränktes Leben führen zu können.
Irgendwann würde sich das auch wieder ändern. Wenn sie das Schloss räumen musste, weil es nicht mehr leer stand. Oder wenn ihr die Decke so sehr auf den Kopf fiel, dass sie es nicht mehr aushielt. Oder wenn sie endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, die Fesseln des Fluchs abzustreifen und unbeschwert leben zu können.
Irgendwann einmal. Irgendwie.
Vielleicht.
Schluss jetzt! Genug Trübsal geblasen!
Anka seufzte noch einmal, dann zog sie den schweren Vorhang zu und sperrte die letzten Sonnenstrahlen des Tages aus.
In den ersten Monaten auf dem Schloss hatte sie es nicht gewagt, nach Einbruch der Dunkelheit Licht zu machen. Schließlich wollte sie niemandem zeigen, dass sich ein Mädchen in diesen Mauern aufhielt, das hier nichts zu suchen hatte. Die Vorhänge hatte sie aber ebenfalls nicht geschlossen - aus Angst, die Veränderung könnte von außen auffallen. Die Folge war, dass sie mit dem ersten Sonnenstrahl aufstand und sich mit dem letzten wieder im Bett verkroch.
Davon hatte sie aber irgendwann genug gehabt und inzwischen ging sie das Risiko ein. Wem sollte auch schon auffallen, dass an einem Fenster die Gardine mal offen, mal zugezogen war? Um ganz sicher zu sein, hatte Anka sogar geprüft, ob man von außen Licht durch den Vorhang sehen konnte. Man konnte nicht. Das eröffnete Anka die Möglichkeit, nun auch nach Einbruch der Dunkelheit etwas Spannendes zu unternehmen. Wie zum Beispiel zu lesen oder fernzusehen. Na ja, besser als nichts.
Sie ließ sich auf die schwarze Ledercouch fallen, knipste die Stehlampe an und schnappte sich das Buch vom Beistelltischchen.
Eine Novelle von Robert Louis Stevenson, die sie schon mindestens dreimal durchgeschmökert hatte. Aber sie hatte im Augenblick ohnehin nichts anderes zu tun. Außerdem liebte sie die Geschichte und ihren Autor. Ein Schotte. Sehr passend zu ihrer Situation!
Das Leder knarzte, als Anka sich zurücklehnte und das Buch aufschlug.
Da hallte ein schweres Pochen durch das Schloss!
Anka zuckte zusammen. Das Herz hämmerte ihr bis in die Ohren und klang beinahe lauter als das Klopfen eben.
Was war das? War sie nicht mehr alleine?
So ein Mist!
Sie schlug das Buch zu, stellte es ins Regal, aus dem sie es vorgestern genommen hatte, und löschte das Licht.
Wieder erklang das Pochen! War da jemand am Tor?
Hatte dieser Jemand sie entdeckt? Warum sonst sollte er an einem eigentlich unbewohnten Schloss klopfen?
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür, zog sie einen Spaltbreit auf und lugte hinaus in den Flur. Nichts Außergewöhnliches zu sehen.
In diesem Augenblick wurde ihr Verdacht bestätigt. Sie hörte ein erneutes Pochen und es kam eindeutig von unten. Vom Tor. Jemand stand davor und wollte herein. Diesmal hörte sie auch noch eine gedämpfte Stimme.
»Julian? Julian Peters? Bist du da?«
***
Gegenwart
»Rhett?«
Professor Zamorra betrat das Zimmer im Nordflügel von Château Montagne.
»Rhett? Alles klar mit dir?«
Der Sechzehnjährige wandte ihm den Rücken zu und starrte auf das Wesen mit der Krokodilsschnauze, das regungslos in dem Lager zu seinen Füßen vor sich hin schlummerte.
Nein. Schluss mit den Euphemismen. Fooly schlummerte nicht. Er vegetierte vor sich hin. Und das nun schon seit vier Monaten. Seit ihn ein Strahl aus dem Amulett getroffen hatte. [1] Seine Füße zuckten wie bei
Weitere Kostenlose Bücher