0918 - Auf der Schwelle der Zeit
Abwehr stieß, wurde er zurückgeschleudert, als hätte ihn ein Pferd getreten. Dabei zischte und knackte es so laut, dass selbst Anka es hören konnte. Auch den Vampir lenkte das Geräusch ab. Der Erbfolger nutzte die Gunst der Sekunde und verpasste dem Vampir einen Faustschlag ins Gesicht. Der war so überrascht, dass er zurücktaumelte.
Endlich gelang es dem Jungen, sich loszureißen. Er stürzte zu Boden, war aber sofort wieder auf den Beinen und rannte zum Portal des Schlosses. Wegen des schlechten Winkels konnte ihn Anka dort nicht mehr sehen, aber sie hörte, wie er mit den Fäusten dagegentrommelte.
»Lass mich hinein, Julian! Lass mich hinein!«
Anka hörte die Panik in der Stimme des Jungen. Endlich fasste sie einen Entschluss.
Ich muss ihn reinlassen! Ich muss ihm helfen. Egal, wer er ist!
Dafür ist es jetzt zu spät.
Das wollen wir doch mal sehen!
Sie zirkelte herum, raste aus dem Schlafzimmer, hetzte den Gang entlang und jagte die breite Treppe hinunter in die Halle. Beinahe rutschte sie auf dem glatten Steinboden aus, doch sie fing sich sofort wieder und rannte weiter.
Wenige Zentimeter vor der verschlossenen Tür blieb sie stehen. Ihr Herz dagegen galoppierte weiter.
Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen, denn für das, was sie jetzt vorhatte, brauchte sie Konzentration. Sie hatte keinen Schlüssel, kannte aber eine andere Möglichkeit, das Castle zu betreten und zu verlassen. Noch drei-, viermal schnaufte sie tief durch, dann schloss sie die Augen - und stand im nächsten Augenblick auf der anderen Seite des Tors. Vor dem Schloss.
An einem anderen Ort hätte sie diese Abkürzung, die sie Blinzelsprung nannte, direkt vom Schlafzimmer aus genommen und sich dadurch wertvolle Sekunden gespart, aber der Abwehrschirm um das Schloss dämpfte ihre Fähigkeiten auf ein Minimum! Und das war auch gut so.
Dennoch hätten diese kleinen Sekunden vielleicht einen großen Unterschied gemacht. Denn als sie sich vor Llewellyn-Castle umsah, war von dem Vampir und dem Erbfolger nichts mehr zu entdecken.
***
Gegenwart
Graue Augen. Groß wie Galaxien. Tief wie die Lochs in Schottland.
Rhett öffnete seinen Geist und ließ den Meister des Übersinnlichen ein.
Zamorras Stimme war Samt. Sie umschmeichelte Rhett, schmiegte sich an seine Haut. Er fühlte sich leicht, leicht, so leicht. Fast schwerelos. Ein Hauch genügte, und er verwehte, tänzelte in der Luft wie ein Blatt. Die sanfte Brise trieb ihn hinaus in Zamorras graue Augen. In die Unendlichkeit. In ein anderes Leben. Zurück ins Jahr…
***
159 n. Chr.
Logan Saris ap Llewellyn blieb mitten auf der Lichtung stehen und atmete tief ein.
»Hier sind wir.«
Einige Schritte hinter dem Erbfolger stand ein kahlköpfiger Mann. Er hatte den gewaltigen Brustkorb und die mächtigen Arme eines Holzfällers. An seinem Gürtel hing eine schwere Axt. »Was ist das für ein Ort?«
»Das, Casril, ist der Ort, an dem du die Unsterblichkeit erlangen wirst.« Logan drehte sich um und lächelte den Auserwählten an. »Und der, an dem ich mein Grab finden werde. Bei meiner Familie.« Er zeigte auf einen mannshohen Stein. »Dort!«
Der Finger schmerzte, als er ihn ausstreckte. Mit Abscheu musterte er für einen Augenblick die knotigen Gelenke seiner faltigen und von dunklen Flecken überzogenen Hand. Vor ein paar Wochen hatte die Alterung bei ihm eingesetzt. Die wenigen Haare, die er noch hatte, strahlten in eisigem Grau. Jeder Knochen im Leib schmerzte. Innerhalb einer einzigen Woche hatten die meisten seiner Zähne beschlossen, dass sie mehr von der Welt sehen wollten als eine Mundhöhle. Die paar, die ihm noch nicht ausgefallen waren, peinigten ihn bei jedem Bissen. Die Augen lieferten nur noch unscharfe Bilder. Er hasste es, alt zu sein! Doch noch mehr hatte er es gehasst, so alt werden zu müssen. In drei Tagen feierte er seinen 258. Geburtstag. Er freute sich darauf - weil da sein Leben ein Ende nehmen würde! Endlich!
Noch immer dachte er jeden Tag an die schrecklichen Ereignisse vor 238 Jahren. Jeden einzelnen verdammten Tag sah er vor sich, wie ein augenloser Dämon mit einer gespaltenen Unterlippe gnadenlos seine Familie auslöschte und Selverne als seelenloses Wrack zurückließ. Er hatte jede Minute seines Lebens seit diesem Augenblick gehasst!
Warum konnte er nicht sein wie andere Männer? Warum hatte er nicht mit Selverne, der Frau seiner Träume, glücklich werden können?
Weil er der Erbfolger war! Weil es sein verfluchtes Schicksal war, einmal im
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