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0918 - Auf der Schwelle der Zeit

0918 - Auf der Schwelle der Zeit

Titel: 0918 - Auf der Schwelle der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Fröhlich
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aufgeht, weil sie auf einen Widerstand trifft.
    Immer wenn das Tor ganz geöffnet war, glaubte Zamorra so etwas wie einen schwachen Luftzug zu spüren. Die ausströmende geronnene Zeit? Möglich, aber warum floss sie überhaupt aus dieser Welt?
    Egal. Er musste jetzt nichts anderes tun, als die beiden Körper von der Schwelle zu ziehen, dass sich der Schlund wieder schließen konnte. So schwer durfte das ja nicht sein, oder?
    Der Meister des Übersinnlichen rannte die verbleibende Strecke bis zum Tor - und blieb wie angewurzelt stehen. Auf der Friedhofseite des Schlunds tauchte plötzlich ein Mann auf, dessen Gesicht er wirklich gut kannte! Das mochte daran liegen, dass er es jeden Tag im Spiegel sah.
    Nun wusste Zamorra also nicht nur, an welchen Ort das Tor führte, sondern auch in welche Zeit. Eigentlich hätte dichter Nebel die Szenerie verhüllen müssen, aber von dieser Seite aus war der nicht zu sehen. Zamorra sah sich selbst, wie er einen Stein in Richtung des Schlundes warf, wie er vorsichtig die Hand ausstreckte, wie er plötzlich erst über seine Schulter und dann nach oben schaute, wie irgendetwas seine Hand packte und daran zog. Noch einmal erlebte er mit, wie er sich gegen den Sog wehrte. Weiter hinten sah er Gryf und Rhett auftauchen und auf Zamorras zweites Ich zurennen.
    Oder war es sein erstes Ich? War es überhaupt von Bedeutung?
    Der Quellen-Zamorra schüttelte den Kopf. Da hatte ihn also eine unsichtbare Kraft in eine Zeit vor fast zweitausend Jahren gezogen (etwas, was der Friedhofs-Zamorra noch vor sich hatte), von wo aus er zur Quelle des Lebens weiter gereist war, um sich von dort aus selbst zu beobachten, kurz bevor es ihn in die Vergangenheit riss.
    Zeit ist nichts weiter als eine Truhe voller Augenblicke. Wenn man sie schüttelt, purzelt alles übereinander oder treibt auseinander. Später ist plötzlich früher, immer wird zu nie.
    Jetzt erst verstand Zamorra, wie zutreffend diese Aussage der Hüterin war. Sein jetziger Augenblick war vor einen gepurzelt, der sich für ihn eigentlich schon abgespielt hatte.
    Da konnte einem wirklich das Hirn platzen, wenn man länger darüber nachdachte.
    Der Quellen-Zamorra sah, wie die Kräfte seines Friedhofs-Ichs nachließen.
    »Mach dich auf etwas gefasst! Das wird wehtun!«
    Zamorra konnte nicht mehr sehen, wie sein früheres Ich weggerissen und zu einer Karussellfahrt mitgenommen wurde, weil sich das Tor wieder schloss.
    Genug getrödelt. Jetzt schieb endlich den Vampir und sein Opfer zurück in ihre Welt, dass die Quelle nicht länger…
    Eine der öligen Tränen aus dem Himmel klatschte auf seinen Schuh. Sofort wuchsen Fäden aus dem Tropfen, die über die weiße Oberfläche schlängelten und den Sneaker in Sekundenschnelle überwucherten.
    »Merde!«
    Bevor das eklige Zeug auf den Fuß oder das Bein übergreifen konnte, bückte sich Zamorra, um sich den Schuh herunterzureißen.
    Das war sein Glück! Nur einen Sekundenbruchteil später zischte genau dort, wo gerade noch Zamorras Hals gewesen war, etwas durch die Luft. Etwas sehr, sehr Scharfes!
    Der Professor warf sich zu Boden und wälzte sich auf den Rücken.
    Vor sich sah er ein schwarzes Skelett, das mit knochigen Händen eine Sense umklammerte und schon wieder damit ausholte.
    Noch ein alter Bekannter! Bereits bei seinem ersten Besuch hatte er den Knochenmann gesehen. Damals hatte er ihn für ein Symbol des Todes gehalten, so wie die Hüterin für ihn ein Symbol des Lebens gewesen war. Offenbar war der Gegensatz zwischen den beiden aber wesentlich weniger symbolisch, als er gedacht hatte. Denn so wie es aussah, hatte das Skelett ernste Einwände dagegen, dass Zamorra das Leck stopfen wollte, durch das die Quelle ihre Kraft verlor.
    Eine teerige Himmelsträne traf den Sensenmann auf dem Schädel. Wieder bildeten sich sofort unzählige dünne Fäden, die über die Stirn wimmelten und von dort in die leeren Augenhöhlen eindrangen. Nur Augenblicke später war der Tropfen verschwunden - aufgesaugt oder in den Knochen integriert.
    Da raste die Klinge herab!
    Zamorra rollte sich auf die Seite. Er hörte das Zischen der Klinge, die die Luft zerschnitt, doch sie traf nicht. Noch während der Bewegung krümmte der Professor sich zusammen, riss sich endlich den Schuh vom Fuß und sprang auf.
    Das Skelett holte bereits wieder mit der Sense aus.
    Obwohl sich Zamorra der Lächerlichkeit dieser Geste bewusst war, schleuderte er dem Knöchernen seinen Schuh entgegen. Ein Traumwurf! Der Sneaker traf mit dem

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