0919 - Die Rache
Der Pfarrer hatte seine Worte den Gegebenheiten angepaßt, und ich war jetzt schon gespannt darauf, wie wir beide mit ihm zurechtkamen.
Obwohl er nichts mehr sagte, machte er den Eindruck, als wäre er noch nicht fertig. Ein kurzer Blick streifte uns. Die dichten Brauen über den Augen zogen sich zusammen, dann kümmerte er sich wieder um seine eigentliche Aufgabe und sprach weiter.
»Jeder von uns weiß oder hat es zumindest gespürt, daß sich Veränderungen ergeben werden. Es ist viel gesündigt worden, und dies nicht nur gegen die Menschen, sondern auch gegen die Tiere, die Umwelt, eigentlich gegen alles. Tropfen für Tropfen fiel in das Glas und füllte es. Irgendwann aber ist jedes Gefäß voll und läuft über. Bei manchen kann es zu einer großen Gefahr kommen, bei anderen wiederum versickert die Flüssigkeit, um sich woanders zu sammeln, was nicht heißt, daß sie für alle Zeiten verschwunden ist. Sie kehrt zurück. Sehr schnell und mit vehementer Gewalt. Die Rückkehr, das weiß ich, steht uns nun bevor, meine Freunde. Wir kämpfen nicht mehr auf so verlorenem Posten, wir haben Hilfe bekommen, was unseren Freund Ortega zwar nicht mehr lebendig macht, aber wir müssen für jede Hilfe dankbar sein, sage ich, und wir können sie uns nicht aussuchen.« Der Pfarrer zeigte auf das Grab. »Möge unser Freund in Frieden ruhen und von der Herrlichkeit Gottes aufgenommen werden, in die auch wir alle irgendwann einmal eingehen werden, wo wir dann die Reichen sind und die anderen die Armen. Dies ist ein Versprechen, und dies ist auch eine Hoffnung, meine Freunde. Amen.«
Es war das Ende der Grabrede, über die wir sicherlich nachzudenken hatten. Ob wir nun damit zurechtkamen oder nicht, der Pfarrer selbst hatte die entsprechenden Worte gefunden, und besonders der letzte Teil seiner Rede hatte uns aufmerksam werden lassen. Er hatte von Veränderungen gesprochen, und wir waren beide gespannt darauf, was er damit meinte.
Noch kümmerte er sich nicht um uns. Er gab jedem die Hand, umarmte die Menschen auch, und wieder hörten wir, wie er von einer Hoffnung sprach, die sich näherte.
Bill räusperte sich leise. Er lenkte somit meine Aufmerksamkeit auf sich. »Ich will doch nicht meinen, daß er mit dieser Hoffnung das Wesen meint, das mir vor die Kamera gelaufen ist.«
»Möglich ist alles, Bill.«
»Verflixt, das paßt doch nicht mit den Vorsätzen der Kirche zusammen! Oder wie siehst du das?«
»Noch weiß ich nichts.«
»Na ja, wir werden sehen und hören, wie der Pfarrer reagiert, was er uns zu sagen hat.«
Oliveiro hatte sich von den Trauernden verabschiedet, die noch am Grab blieben. Einige Männer holten Schaufeln und begannen damit die Erde wieder in das Loch zurückzuwerfen.
Auf uns kam Oliveiro zu. Er sagte nichts, er schaute uns nur prüfend an. Bei jedem Schritt bewegte sich das schlichte Holzkreuz vor seiner Brust. Dann blieb er stehen und sprach uns mit leiser Stimme an.
»Guten Tag, Senores«, sagte er und lächelte kurz. »Ich denke nicht, daß sie gekommen sind, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Sicherlich wollen Sie mit mir sprechen.«
»Das stimmt«, bestätigte Bill.
»Nun gut, dann lassen Sie uns gehen. Hier ist wohl nicht der richtige Ort. Mein Haus ist zwar bescheiden, aber ich stehe dazu und passe mich eben dieser Gegend an.«
»Natürlich, Senor.«
Oliveiro schaute sich um. Dann blieb sein Blick auf Bill Conolly hängen. »Ich wußte, daß Sie kommen würden, Senor Conolly.«
»Sie kennen meinen Namen?«
»Ja, denn in dieser Gegend bleibt mir kaum etwas verborgen. Aber darüber werden wir noch reden, Senores…«
Er ging auf sein Haus zu. Wir folgten ihm, und ich hörte Bills Flüstern: »Da bin ich aber gespannt…«
***
Ein Kopf!
Ludmilla wollte es nicht glauben, aber sie sah tatsächlich einen Kopf, der praktisch in Augenhöhe, allerdings noch ein Stück entfernt, vor ihr schwebte, und sie fragte sich, wie so etwas überhaupt möglich war. Es gab keine fliegenden Menschen, wobei diese Person nicht flog oder schwebte, sondern noch mit den Kronen der Bäume verbunden war, denn dort hatte sie ihr Versteck gefunden.
Relativ weit von Ludmilla entfernt, aber trotz der schmutzigen Scheibe gut zu erkennen.
Sie holte tief Luft. Das Zittern ließ kaum nach. Ihre Augen brannten wieder. Sie spürte den Tränendruck, und sie ballte die Hände zu Fäusten, wobei sie den Kopf anhob, ihn in den Nacken drückte, und ihre Lippen Worte flüsterten, die sie nicht verstand.
Dann
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