0919 - Die Rache
umfaßte den klebrigen Griff. Er ließ sich mühelos drehen, und wenig später zerrte sie das Fenster auf. Ein Schwall schlecht riechender Luft drang ihr entgegen. Ludmilla drehte den Kopf. Sie warf einen letzten Blick auf das Bett, als wollte sie von ihm Abschied nehmen.
Dann richtete sie den Blick nach vorn.
Wieder konnte sie den Dschungel erkennen. Die Bäume mit ihren Kronen bildeten ein ebenso dichtes Geflecht wie auch das Unterholz, das aussah wie eine undurchlässige Wand.
Ludmillas Mund zuckte.
Nur keine Tränen jetzt. Nur keine Tränen! schärfte sie sich ein. Du hast dich einmal entschlossen, und jetzt gibt es für dich keinen Weg zurück.
Sie schaute in die Tiefe.
Zum erstenmal sah sie die Hauswand und wunderte sich, daß daran keine Pflanzen Halt und Nahrung fanden.
Damit kam die Frau nicht zurecht. Das hatte sie noch nie gesehen.
Sie entdeckte auch über sich lange Blätter, lianenartige Gewächse, die wie dünne, krumme und fettig aussehende Arme nach draußen wuchsen.
Sie bewegten sich sogar…
Lag es am Wind?
Ludmilla war schon durcheinander. Sie kam mit diesen Dingen einfach nicht zurecht. Zugleich fragte sie sich, warum sie das überhaupt interessierte?
Für sie war es wichtig, der nahen Zukunft zu entkommen, das schaffte sie nur durch ihren Tod.
Einfach kippen. Es war doch so leicht.
Wieder warf sie einen Blick in die Tiefe. Der Boden unter ihr lag zwar fest und glatt, aber er schwankte trotzdem und kam ihr vor wie ein gewaltiges Meer.
»Ich tue es!« flüsterte sie und stemmte sich auf der schmalen Fensterbank in die Höhe.
Sie hockte sich darauf. Das erste Schwindelgefühl überkam sie.
Ludmilla glaubte, auf der schmalen Bank von einer Seite zur anderen geweht zu werden.
Unter ihr schaukelte das Wasser. Es lockte sie. »Spring!« schien es zu schreien.
Und sie tat etwas. Wie ein Stein ließ sie sich in die Tiefe fallen, wobei sie noch den Namen ihrer Mutter schrie…
***
Pepe Marcas hatte die letzten beiden Tage wie im Traum erlebt und die Erinnerung an diese Gestalt einfach nicht unterdrücken können.
Er hatte immer darauf gehofft, daß der Reporter noch einmal zu ihm zurückkehrte, um mit ihm zu reden, aber die Hoffnung war vergebens gewesen. Vielleicht hatte er es sich auch überlegt und war wieder zurück in seine Heimat geflogen, obwohl Pepe ihm so etwas nicht zutraute, denn er gehörte zu den Menschen, die ein Versprechen einhielten.
Da war dann noch die Sache mit seinem Freund, den er hatte nach Manila holen wollen. Es konnte ja sein, daß sich Probleme ergeben hatten, und Pepe wollte ihm noch einen Tag geben, bis er sich wieder traute, ihn im Hotel anzurufen.
Seiner Frau Vicenca ging es auch nicht besser. Es war ihr bisher nicht gelungen, die Begegnung mit diesem Wesen zu verkraften. Sie sprach immer wieder davon, und wenn sie dieses Thema mal nicht anschlug, dann dachte sie daran.
Das hatte sich auf ihr Verhalten geschlagen. Von ihrer Normalität war nicht mehr viel übriggeblieben. Ihr Temperament war verlorengegangen. Sie war in eine Trauer oder Depression gefallen und fühlte sich nur in der engen Wohnung sicher. Sie fürchtete sich davor, sie zu verlassen, was natürlich ihr Mann nicht verstand. Er hatte versucht, mit seiner Frau zu reden, aber Vicenca hatte ihn nur angeschaut und zugleich durch ihn hindurchgesehen, als wäre ihr Blick auf etwas völlig anderes konzentriert.
Eigentlich hätte sie sich im Laufe der Zeit mit gewissen Dingen anfreunden und sie zugleich vergessen müssen, das war bei Vicenca leider nicht der Fall gewesen. Zu Beginn des zweiten Tages war sie in Schweiß gebadet erwacht, hatte sogar geschrien und sich dann vor den kleinen Marienaltar gekniet, um zu beten.
Ohne eine große Hoffnung auf Antwort zu bekommen, hatte Pepe gefragt, was sie bedrückte, und seine Frau hatte ihm mit kaum zu verstehender Stimme erklärt, daß dieser Tag und die folgende Nacht die Entscheidung bringen würde.
»Welche Entscheidung?«
»Warte es ab, Pepe.«
Dem Mann war nichts anderes übrig geblieben, denn Vicenca zeigte sich wieder verstockt. Er hatte versucht, seiner Arbeit nachzugehen. Es mußte immer irgendwo etwas repariert werden, zudem gab es da noch ein besonderes Problem.
Es hing mit dem Bewuchs der Hauswände zusammen. Nun wußte jeder, daß sich die Natur im Laufe der Zeit immer das zurückholte, was ihr genommen worden war, aber nicht in der Art, wie Pepe es an dem einen Hochhaus, in dem er wohnte, erlebte. Da waren die Pflanzen aus dem
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