092 - Der Herr des Schreckens
solchen Dingen habe ich mich nie beschäftigt. Halb und halb bezweifle ich jetzt noch ihre Existenz, trotz allem, was ich erlebt habe.“
„Bei Tageslicht erscheint manches harmlos, was bei Dunkelheit Furcht einflößt. Ich will dir einen Talisman geben, Dulac, eine mächtige Waffe im Kampf gegen die Schwarze Magie und gegen Zaubermacht. Zudem will ich dich und deinen Begleiter ein paar Formeln lehren, die euch vielleicht nützen können. Doch ob ihr damit etwas gegen Chandar-Chan auszurichten vermögt, weiß ich nicht. Ihr steht furchtbaren Mächten gegenüber, sie sind schrecklicher, als ihr sie euch vorstellen könnt.“
In der nächsten halben Stunde bemühten sich Dulac und Arvois, Beschwörungsformeln und Zaubersprüche zu lernen. Giscard Chardier las sie aus einem vergilbten, in Menschenhaut gebundenen Folianten vor. Es mußten einfache Formeln sein, die auch ein Laie anwenden konnte, Gegenbeschwörungen, um Zauberkraft zu brechen, denn für komplizierte Sachen waren eine lange Vorbereitungszeit und dämonische Weihen erforderlich.
Chardier holte aus dem Nebenraum ein kurzes Stöckchen, ähnlich einem Spazierstock. Das Stöckchen hatte einen alten und rissigen Horngriff und wies ein paar kaum noch erkennbare Schnitzereien auf. Es fiel dem alten Chardier sichtlich schwer, sich davon zu trennen.
„Ich würde gern mit nach Tibet gehen, um dem Herrn des Schreckens das dämonische Handwerk zu legen“, sagte Chardier. „Aber mein altes Herz ist den Anstrengungen des Fluges und des Klimawechsels nicht mehr gewachsen. Meine guten Wünsche begleiten euch. Laßt es mich wissen, wenn ihr erfolgreich seid. Wenn ich nichts mehr von euch höre, wird das ein schlimmer Schmerz für mich sein, denn dann weiß ich, daß ihr ein furchtbares Ende gefunden habt.“
Der alte Sonderling brachte seine Besucher zur Tür. Er sah ihnen nach, wie sie in den dunkelblauen Wagen einstiegen und davonfuhren.
„Ein seltsamer alter Mann“, sagte Professor Dulac zu Robert Arvois. „Er war einmal ein bekannter Historiker, bis er sich völlig seinem Steckenpferd widmete, der Mythologie, den Religionen und Kulten Asiens. Seine Frau verließ ihn, seine Kinder wandten sich von ihm ab, und jetzt lebt er schon seit über fünfundzwanzig Jahren allein in dieser Villa.“
Während Dulac und Arvois in die Stadt zurückfuhren, war Giscard Chardier in den großen Saal zurückgekehrt. Er las in dem in Menschenhaut gebundenen Buch.
Plötzlich hörte er einen unheimlichen Ton, ein dumpfes, anschwellendes Heulen. Es steigerte sich mehr und mehr und erfüllte den Saal. Chardier sah sich um, er konnte nichts Außergewöhnliches feststellen, doch dann wehte ihn eiskalte Grabesluft an.
Chardier stand auf. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, fiel polternd um. Der Greis wich bis zur Wand zurück.
„Was ist das?“ ächzte er.
Eine dunkle Wolke formte sich aus dem Nichts über dem langen Tisch. Böse, dämonische Augen funkelten darin. Die Wolke wurde dichter und schwärzer.
„Du hast es gewagt, dich gegen Chandar-Chan zu stellen, du Wurm“, grollte eine Stimme aus der schwarzen Wolke. „Dafür sollst du sterben. Was hast du mit Dulac zusammen ausgeheckt? Sprich, sonst zerschmettere ich dich auf der Stelle.“
Chardier war erbleicht, als er den schrecklichen Namen Chandar-Chan hörte. Seine Knie zitterten, doch er nahm sich zusammen und bezwang seine Angst. Er war ein alter Mann, achtzig Jahre fast. Sein Leben war gelebt. Die Geister und Mächte, die ihn seit langen Jahren fasziniert hatten, würden ihm nun den Tod bringen.
Irgendwie war es ein würdiger Abschluß seines exzentrischen Lebens.
„Du weißt nicht, was ich mit Dulac und seinem jungen Begleiter besprochen habe?“ fragte Giscard Chardier die schwarze Wolke mit den Flammenaugen. „Ich denke, du kannst über weite Fernen und an verborgene Orte sehen, Chandar-Chan?“
„Etwas hat mich diesmal daran gehindert. Ein widriger Zufall oder etwas anderes. Was hast du getan, um dein Haus vor Schwarzer Magie und Zauberei zu schützen, alter Mann?“
Chardier lachte mit dem Mut der Verzweiflung.
„Solange du nichts weißt, hat Dulac eine kleine Chance. Und von mir wirst du nichts erfahren, du unmenschliches Ungeheuer. Paß auf!“
Mit lauter Stimme begann Giscard Chardier Beschwörungsformeln und Zaubersprüche zu rufen. In der Wolke heulte es auf. Ein Sturm erhob sich, der die Fensterscheiben des Hauses zerschlug und im Saal Bücherregale und Statuen umstürzte.
Giscard Chardier
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