0921 - Die Trennung
er suchte. Eine kleine Schatulle aus Ebenholz. Triumphierend hielt er sie in die Höhe. Ganz gezielt hatte er sie mit dem Schatz in die Zukunft geschickt. Denn sie enthielt magische Kreide und einige andere Gegenstände, die ihm beim Zaubern behilflich waren.
Er öffnete die Schatulle und entnahm ihr ein Stück magische Kreide. Damit zeichnete er magische Zeichen zwischen zwei exakten Kreisen auf ein Stück freien Kellerboden. Der äußere Kreis besaß einen Durchmesser von annähernd zwei Metern.
Carax schleppte das Mädchen, das sechzehn oder siebzehn Sommer zählen mochte, in den Kreis, zog es nackt aus, warf die Kleider weg und streckte seine Arme und Beine so, dass ein exaktes X entstand.
Dann weckte er das junge Ding. Ihre Todesangst war ein entscheidender Teil der Beschwörung. Mit großen Augen starrte sie die unheimliche Gestalt an, die über ihr stand und auf sie herab starrte. Sie wand sich, versuchte ihre Arme und Beine zu bewegen, aber die waren mit magischen Fesseln fixiert. Unartikulierte Laute lösten sich aus ihrer Kehle, sie weinte und wimmerte gleichzeitig. »Bitte, bitte, tun Sie mir nichts, bitte…«
Carax stieg zu der Unglücklichen in den Kreis und kauerte sich neben sie. Schrille Schreie erfüllten den Keller, als die Knochenhand über zarte, weiße Haut fuhr. Sie bedeckte einen Körper, der nun unkontrolliert zitterte.
Carax’ Knochenhand strich über die linke Brust und verharrte dann kurz darunter. »Ja, schrei dir die Angst aus dem Leib«, flüsterte er dicht am Ohr des Mädchens, dessen Brüllen gar nicht mehr nachlassen wollte, so, als wolle er es noch zusätzlich animieren. »Ich töte dich, gleich stirbst du.«
Monotone Formeln lösten sich aus seinem Knochenmaul, erst leise, dann immer lauter, eindringlicher, unheimlicher. Eine düstere schwarze Aura baute sich in dem Kellerraum auf, ließ einige Spinnen tot in ihren Netzen zusammensacken.
Pluton kam!
Carax verstärkte die Beschwörung, die mit dem Blut des Mädchens gekrönt wurde, noch einmal. Auf dem Höhepunkt der nun schrill kreischend vorgetragenen Formelkette drang die Hand des Zombies plötzlich durch den Brustkorb, umschloss das wild zuckende Herz – und riss es mit einem Ruck heraus!
»Pluton, mein Blutopfer zwinge dich in den Kreis deines treu ergebenen Dieners!«, intonierte Carax nun plötzlich mit dumpfem Tonfall und hielt das Herz mit ausgestrecktem Arm über dem Kopf. Blut tropfte in Strömen auf seine Knochenfratze. »Erscheine!«
Bisher hatte es immer geklappt. Eine tiefschwarze Wolke hatte sich manifestiert. Pluton war darin flammenumkränzt erschienen, in all seiner höllischen Majestät. Die schwarze Wolke erschien tatsächlich, dieses Mal aber seltsam instabil, an vielen Stellen zerfasernd, so, als treibe sie ein starker Wind auseinander. Tatsächlich war ein unheimliches Pfeifen zu hören, wie bei einem schweren Sturm. Dazwischen brüllten gepeinigte Seelen. Ein paar dämonische Fratzen erschienen in der Schwärze, rissen ihre Mäuler drohend auseinander, lösten sich aber sofort wieder auf. Dann fiel die Schwärze in sich zusammen.
Voller Enttäuschung und Angst sank Carax über dem Leichnam zusammen. Er brauchte einen Moment, um sich zu erholen. Und er schob sein Versagen darauf, dass seine Magie noch nicht richtig funktionierte. Irgendetwas musste er falsch gemacht haben. Aber was? Wie hätte er auch wissen sollen, dass der Erzdämon Pluton längst tot war, gestorben in der Dimension der Meeghs und dass diese Beschwörung deswegen nie wieder Erfolg haben würde.
Morgen Nacht würde es Carax, der Zombie, also erneut versuchen. Bis dahin musste alles seinen gewohnten Gang gehen.
***
16. Arrondissement
Am nächsten Morgen verabschiedete sich Michel Tournier von Marc und Maggie mit einer stummen, festen Umarmung. Das ließ Carax, der sie misstrauisch beobachtete, gerade noch zu. Er erschien Tournier nervöser und gereizter als gestern Abend. Ganz kurz dachte er über die Anweisung nach, den Keller ab jetzt nicht mehr betreten zu dürfen.
Dann fuhr der Anlageberater weg. Bereits an der nächsten Ecke wurde er von Flics gestoppt, die hier im Großaufgebot angerückt waren und Straßensperren errichtet hatten. Einen Moment stieg wilde Hoffnung in ihm hoch, dass es wegen dieses furchtbaren Untoten sein könnte. Doch dann erfuhr er, dass sie Nadine Thibault suchten.
Er kannte das siebzehnjährige Mädchen aus der Nachbarschaft flüchtig, war aber viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um weiter
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