0924 - Das Totenbuch
tun?«
»Ich will tot sein!«
»Nein, nicht! Das ist…«
Diesmal unterbrach sie mich, und abermals hörte ich keine Modulation in ihrer Stimme. »Ich will aber tot sein. Dieses Leben kann nicht mehr so weitergehen.«
»Ist der Tod eine Lösung?«
»Für mich schon.«
»Sie sind jung und…«
»Das weiß ich alles. Aber ich habe mehr durchgemacht als Menschen, die doppelt so alt sind wie ich. Das können Sie mir glauben.«
»Wie heißen Sie?«
»Carol Holmes.«
»Okay, Carol, ich bin John, und ich kann nicht zulassen, daß Sie sich umbringen!«
»Gehen Sie!«
»Nur mit Ihnen!«
Carol senkte den Kopf. »Ich bleibe. Für mich hat alles keinen Sinn mehr. Ich will nicht mehr leben. Ich kann es auch nicht. Es ist vorbei. Es ist alles vorbei, verstehst du?«
»Ja und nein.«
»Was heißt das?«
»Darüber sollten wir an einem anderen Ort reden.«
»Nein, ich bleibe.«
»Wer wartet denn noch auf Sie?«
»Der Tod!«
Ich lachte. »Carol, der kann warten. Der Tod hat Zeit, und ich lasse nicht zu, daß er über Ihre Zeit bestimmt.«
Sie ging auf meine Bemerkung nicht ein und sagte: »Ich hätte es schon damals tun sollen. Ich stand schon auf der Brücke…«
»Wunderbar, Carol!« lobte ich sie. »Da haben Sie es doch auch nicht getan. Warum denn jetzt?«
»Es ist jemand gekommen.«
»Ein Retter?«
»Fast.«
»Was war er genau?«
»Er hat versprochen, mich in den Tod zu führen. Er wollte mein Begleiter sein und mir auch das Totenbuch zeigen. Das hat er alles gesagt, und ich habe ihm vertraut.«
Es versteht sich von selbst, daß ich in den letzten Sekunden große Ohren bekommen hatte. Plötzlich lagen die Dinge wieder ganz anders und rückten auch näher zusammen. Hier öffnete sich die Spur zu diesem Begleiter oder Schatten, und Carol konnte mich näher an ihn heranbringen.
»Tja, das ist natürlich Pech«, sagte ich. »Dann hat er sie eben belogen, denke ich mir.«
»Nein.« Sie ballte ihre Hände. »Sie kennen ihn nicht.«
»Vielleicht doch.«
»Wollte er Ihnen auch den Weg in den Tod ebnen?«
»Nein, mir weniger, aber einem Bekannten von mir, dem diese Laube und der Garten gehört.«
»Starb er?«
»Ja, er lebt nicht mehr.«
Durch Carols Gestalt ging ein Ruck. »Sehen Sie, dann hat er nicht gelogen, und ich kann weiterhin auf ihn vertrauen.«
»Er ist nicht Sie, Carol. Ich werde es nicht zulassen, daß er Sie ins Jenseits begleitet. Und falls sie das Totenbuch suchen, es befindet sich in meinem Besitz!«
Diese Erklärung hatte sie geschockt. Plötzlich ruckte ihr Kopf herum. Ich starrte aus unmittelbarer Nähe in ihr Gesicht und las dort jede Regung ab. Staunen und Freude mischten sich dort. Ihre Augen waren sehr groß geworden, die Lippen zitterten, die Nasenflügel bebten, und dann schüttelte sie den Kopf. »Es stimmt nicht.«
»Doch, es ist alles wahr.«
»Ich will es sehen!«
»Das können Sie. Wir beide werden jetzt aufstehen, das Haus hier verlassen und zu meinem Fahrzeug gehen, das ich nicht weit von hier abgestellt habe.«
»Das kann ich nicht glauben.«
»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Ich stand bereits und hatte ihren Arm umfaßt, um sie in die Höhe zu ziehen, aber sie machte sich schwer und blieb sitzen. Ihre Augendeckel bewegten sich, der Mund formulierte eine geflüsterte Frage. »Wie sieht es aus?«
»Es ist schwarz.«
»Auch dick?«
»Es geht.«
»Was steht darin?«
»Ich weiß es nicht auswendig, aber Sie werden alles lesen können, wenn wir beim Rover sind.«
Carol senkte den Kopf. »Einen Rover fahren Sie?« Dann hob sie die Schultern. »Nun gut, ich weiß dann Bescheid.«
Sie traf tatsächlich Anstalten, sich von der Bettkante zu erheben. Dabei bewegte sie sich schwerfällig und drückte ihren rechten Arm noch nieder, als wollte sie sich irgendwo abstützen. Ich war darauf konzentriert, die Umgebung zu beobachten und sah auch die schmutzigen Scherben auf dem Boden liegen. Durch das offene Fenster strömte jetzt ein warmer Wind.
Wind?
Ich hörte den Laut der Wut, und der Wind nahm an meiner rechten Seite stark zu. Aber nur, weil sich Carol Holmes so heftig gedreht hatte. Nicht grundlos. In der rechten Hand hielt sie einen messerähnlichen Gegenstand. Sie hatte bereits ausgeholt und war bereit, mir dieses Ding tief in den Leib zu stoßen…
***
Wegspringen konnte ich nicht mehr. Die Zeit war einfach zu kurz dafür, so blieb mir nur die eine Chance.
Das Knie hochreißen und dabei auf mein Glück vertrauen. Ich rammte mit dem Knie ihre Hand, lenkte
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