0924 - Der Herr der Nebelberge
aber immer noch nicht alle Tentakel erwischt. Ich hab eine andere Idee.«
Gleichzeitig hatte Rhett denselben Gedanken. »Das Auge!«
»Genau. Es zeigt den Fangarmen, wo sie hinzuschlagen haben. Kein Auge, keine Schläge.«
»Ich weiß nicht«, sagte Dylan. »Vielleicht auch: kein Auge, ziellose Schläge. Dann haben wir gar keine Chance mehr.«
»Dann können wir immer noch versuchen, sie zu kappen.«
Sie näherten sich der Burg so weit, wie sie es vertreten konnten. Nahe genug für gezielte Schüsse, aber weit genug entfernt, um außer Reichweite der Beißholzarme zu bleiben. Das Auge richtete seinen Blick auf die Dämonenjäger und beobachtete sie. Obwohl das Gemäuer keinerlei Mimik besaß, glaubte Zamorra Misstrauen zu spüren. Nicht zu Unrecht, wie sie dem Auge gleich darauf bewiesen.
Die ersten zwei oder drei Schüsse jagten noch in nahegelegenes Mauerwerk, sprengten Löcher in die ohnehin schon verfallenen Steine, doch dann schossen sich Zamorra und seine Begleiter ein. Fünf oder sechs Treffer brannten tiefe Wunden in die Mauer, zerstörten das Auge und ließen die Tentakel erblinden. Diese peitschten noch einige Male durch die Luft, trafen sich aber nur gegenseitig, schlugen einigen ihrer Brüder die Spitzen ab und erkannten, dass sie sich in eigenem Interesse besser ruhig verhalten sollten. Dennoch lief der Plan nicht ganz so, wie Zamorra es sich erhofft hatte. Kaum war das Wachsystem der Festung ausgeschaltet, erklang von allen Seiten das Flüstern, das sie schon bei ihrer Ankunft im kleinen Land gehört hatten.
... der Späher ist tot ...
… Eindringlinge…
… müssen aufgehalten werden…
… wollen zum Obersten…
… alle zur Festung…
»Nicht gut!«, sagte der Dhea Nhoi. »Neinneinnein.«
Zamorra war der gleichen Ansicht. »Lasst uns verschwinden.«
»Auf die Treppe!«, schlug Dylan vor. »Da sind wir schon einmal entkommen.«
»Einen Versuch ist es wert!«
»Nein!« In diesem einen Wort lag die Entschlossenheit langer Generationen der Erbfolge. Alle Köpfe ruckten zu Rhett herum. »Anka ist da drin! Wegen ihr sind wir hier. Also gehen wir auch rein.«
»Aber…« Zamorras Versuch der Gegenargumentation scheiterte schon im Ansatz.
»Kein Aber! Wenn ihr wollt, verkriecht euch auf den Stufen, aber tut das ohne mich. Ich gehe in die Festung.«
»Da drin sitzen wir in der Falle, wenn hier gleich alles von Dämonen wimmelt!«
»Äh…«, machte Dylan.
»Auf den Stufen auch!«, sagte Rhett. »Wenn sie aus beiden Richtungen kommen, nehmen sie uns in die Zange.«
»Äh, Leute…«
»Wenn die Treppe schmal genug ist, können immer nur zwei nebeneinander gehen. Dann haben sie nichts von ihrer Übermacht«, sagte Zamorra.
»Äh, Leute!« Wie auf Kommando zuckten Zamorras und Rhetts Blicke herum und sezierten Dylan. Wie mit einer Stimme fuhren sie ihn an: »Was?«
Statt einer Antwort zeigte der Schotte auf die Hügel hinter ihnen, über die eine Flut watschelnder Globber schwappte. Andere weit skurrilere Kreaturen, die Zamorra in ihrer Vielfalt gar nicht erfassen konnte, begleiteten die Fänger. Fischähnliche Wesen, die auf den Karikaturen riesiger Tausendfüßler heranritten. Geschöpfe, die an dicke, aufrechtgehende Würmer erinnerten, auf deren Köpfen grünliche Flammen loderten. Kreaturen, für die das menschliche Vokabular nicht ausreichte, um sie angemessen zu beschreiben.
Mit der Vernichtung des Auges hatten sie die gesammelte Dämonenschaft des kleinen Landes gegen sich aufgebracht!
Der Professor sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Auch hier das gleiche Bild. Plötzlich ertönte aus der Ferne das Schreien Hunderter Katzen. Ein Reißer!
Ihnen blieb nur noch ein Weg offen.
»Na schön. In die Festung!«
***
»Beeil dich, Zamorra! Sie sind gleich da!« Dylans Stimme war die Nervosität deutlich anzuhören. Seine Sheriff-Allüren hatten sich zurückgezogen und der Anspannung das Feld überlassen.
Mit jedem Schritt, den sie dem Gemäuer entgegengerannt waren, hatte er damit gerechnet, dass aus dem Portal Dämonenmassen gequollen kamen. Zu seiner Erleichterung war das nicht geschehen. Die hinter ihnen waren schon mehr als ausreichend, um einem erwachsenen Mann die Knie in Gelee zu verwandeln. Auf eine Weise, die er nicht erklären konnte, fühlte er sich dennoch wohl. Er hatte das Gefühl, endlich zu Hause angekommen zu sein, endlich seine Bestimmung gefunden zu haben. Eigenartig!
»Hetz mich nicht! Ich muss mich konzentrieren. Außerdem weiß ich selbst, dass
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