0925 - Blutzoll
trinken.
Bei einer jungen Frau bestellten wir zwei große Flaschen Wasser. Nach den ersten Schlucken ging es uns besser. Shao und Suko saßen dicht beisammen, hielten sich an den Händen, als wollten sie sich nicht mehr loslassen, und mein Freund meinte: »Es ist noch nicht zu Ende - oder?«
»Nein.«
»Womit rechnest du?«
Ich winkte ab. »Später. Ich möchte erst wissen, wie es euch beiden ergangen ist.«
Suko und Shao redeten abwechselnd. Ich erfuhr, daß die andere Welt sie regelrecht gefangen hatte, und sie hatten die Bilder gesehen, die eigentlich in das Totenbuch gehört hätten, wie ich ihnen sagte.
Genau dieses Totenbuch besaßen wir nicht. Es war und blieb verschwunden, wobei keiner von uns wußte, wo wir es zu suchen hatten.
»Es geht weiter«, erklärte ich, »und der Grund ist Eric Canetti. An ihn müssen wir uns halten.«
»Er gab seinen Schatten ab«, sagte Shao.
»So ist es.«
»An wen?«
Ich runzelte die Stirn. »An den Spuk…«
»Nein!« Shao hatte das Wort gerufen, aber beide waren überrascht. Sie schauten mich auffordernd an, weil sie mehr wissen wollten, aber ich konnte ihnen beim besten Willen nicht viel sagen. »Mit dem Spuk habe ich noch keinen Kontakt aufgenommen. Er hat es auch nicht mit mir getan. Jedenfalls müssen wir davon ausgehen, daß er nichts dagegen gehabt hat, an neue Seelen heranzukommen, auch wenn es über einen Umweg geschah.«
»Können wir noch mal von vorn anfangen?« fragte Suko.
»Bitte.«
»Dieser Eric hat seinen Schatten abgegeben. Er lebte ohne Schatten weiter, und es ging ihm nicht besonders, denke ich.«
»Stimmt.«
»Aber kontrollieren konnte er den Schatten nicht. Er wird sich selbständig gemacht haben.«
Ich nickte Suko zu. »Der Schatten war in der Lage, ein Eigenleben zu führen, was er auch weidlich ausgenutzt hat. Er ging seinen eigenen Weg. Er brauchte auch niemandem Rechenschaft zu geben. Er wurde zu einem Begleiter der Selbstmörder. Er hielt sie nicht von der Tat ab, sondern trieb sie hinein. Er ebnete ihnen den Weg, indem er ihnen die Bilder aus dem Totenbuch zeigte, die von ihm manipuliert werden konnten. Mal waren sie auf den Seiten zu sehen, dann wiederum waren sie verschwunden. Es war ein gewisses Hin und Her, mit dem wir nicht zurechtkommen. Der Schatten ist mächtig, und wenn ihm etwas nicht in den Kram paßt, dann tötet er auch.«
Shao und Suko widersprachen nicht, kamen aber auf Eric Canetti zu sprechen. »Können wir über ihn an den Schatten heran?«
»Das denke ich schon.«
»Und wer ist Canetti?«
Shao hatte mir eine gute Frage gestellt. Ich ließ mir Zeit mit der Antwort und sagte leise: »So genau weiß ich das auch nicht. Ich frage mich, ob Canetti überhaupt noch ein Mensch ist.«
Suko hatte rasch begriffen. »Meinst du, er wäre in den Tod gegangen? Er hätte als Zombie vor dir gesessen?«
»So ähnlich.«
»Du bist dir nicht sicher?«
»Nein, das bin ich nicht. Das Kreuz jedenfalls tötete ihn nicht. Durch seinen Kontakt habe ich euch nur herholen können. Er hat gezahlt, er hat Blutzoll entrichtet. Die Spuren waren zu sehen. Nichts ist umsonst, und ich weiß nicht, wie ich ihn einschätzen soll. Ich habe mit dem Schatten schon Kontakt gehabt. Er hat davon gesprochen, daß auch er ein Selbstmörder gewesen ist oder denen zumindest sehr nahe stand. Je mehr ich darüber nachdenke, um so weniger sehe ich ihn als einen normalen Menschen. Er kann in einer Zwischenwelt existiert haben.«
»Seltsam. Er sprach von einem Blutzoll. Wahrscheinlich hat er ihn zahlen müssen, aber ich sah keine Wunden an seinem Körper. Er wirkte ausgemergelt, abgemagert; er war völlig von der Rolle. Ich hatte den Eindruck, daß er allein nicht mehr zurechtkam. Er wußte wohl nicht, zu welcher Seite er gehörte. Sollte er sich als Mensch sehen, als Schatten oder als ein Wesen dazwischen?«
»Wir werden ihn fragen, wenn wir ihn gefunden haben.«
»Sicher, Suko. Nur müssen wir wissen, wo er sich aufhält. Er kann ja überall sein, die Stadt ist groß, und er kennt sich aus.«
»Eric Canetti heißt er.«
»Richtig, Shao.«
»Der müßte doch zu finden sein. Ebenso wie dieser Paul Sibelius. Was hat er eigentlich damit zu tun gehabt? Warum mußte er sterben?«
»Weil er Bescheid wußte und seine Nase zu tief in gewisse Dinge gesteckt hat. Sibelius verfolgte schon lautere Absichten. Er wollte auf jeden Fall das Geheimnis des Schattens ergründen und hat es sogar geschafft, das Totenbuch in Besitz zu nehmen. Er wollte es studieren und
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