0929 - Engelsblut
Blut tief in die Wunde eindrang und seine heilenden Kräfte verströmte. Da durchpulste eine Wärme die Wunde, die von Marcia nur als angenehm und wunderbar angesehen werden konnte. Sie war beeindruckt, sie schloß die Augen und tat genau das, was sonst ihre Patienten taten.
Auch sie hatten von der weichen und heilenden Wärme gesprochen, von der die Wunde durchflutet worden war, und nun erlebte Marcia es am eigenen Leibe.
Es war herrlich. Es tat so gut. Ein wohliges Gefühl durchrieselte sie. Sie kam sich leicht vor, sie fühlte sich wie weggetragen, und immer wieder strich sie mit ihren Fingern über die Stelle, die verletzt gewesen war.
In ihren Ohren hatte sich ein Rauschen festgesetzt, das sich ständig veränderte.
Manchmal klang es lauter, dann wieder leiser, und es erinnerte sie hin und wieder an einen fernen Gesang, der sicherlich nicht von dieser Welt stammte, sondern von irgendwelchen fremden Wesen abgegeben wurde. Für Marcia war es ein herrliches Gefühl. Jegliche Unsicherheit war verschwunden. Die Heilung durch das Blut schritt rasch davon. Während sie über die Wunde rieb, stellte sie fest, daß es sie gar nicht mehr gab. Sie hatte sich bereits geschlossen.
Das Wunder war geschehen. Nicht nur bei den Patienten, auch bei ihr. Ruckartig öffnete Marcia die Augen. Sofort fiel ihr Blick in den Spiegel, den sie noch immer festhielt.
Da hätte sich eigentlich die Wunde genau in der Mittelfläche abzeichnen müssen.
Aber sie tat es nicht.
Marcia sah das Blut, das sie mit den eigenen Händen verschmiert hatte, aber sie entdeckte keinen Schnitt mehr. Als sie noch einmal nachfühlte und ihren über die Haut wandernden Finger dabei im Spiegel beobachtete, da war ihr klar, daß die Wunde nicht mehr vorhanden war.
Die Hand sank nach unten. Auch der Spiegel rutschte ihr aus den Fingern und fand auf dem Schreibtisch Platz. Um Marcias Lippen huschte ein Lächeln, das eher staunend als froh wirkte, obwohl sie oft genug erlebt hatte, wie sich die Wunden ihrer Patienten durch die Engelsblut-Behandlung geschlossen hatten.
Auch bei ihr.
Marcia blieb nicht mehr lange sitzen. Sie ging mit zittrigen Schritten in das kleine Bad. Beim Auftreten spürte sie nicht den geringsten Schmerz, er war verflogen, es gab ihn einfach nicht mehr. Nur dort, wo sie der Tritt am Schienbein getroffen hatte, war noch ein gewisser Druck vorhanden.
Das Licht im Bad ließ jede Kleinigkeit erkennen. Marcia feuchtete ein Tuch an und wischte die Stelle, an der einmal die Wunde gewesen war, sauber.
Nichts war mehr zu sehen.
Keine Narbe, keine rötliche Stelle, keine Schwellung, kein blauer Fleck, gar nichts.
»Es ist ein Wunder«, flüsterte sie, schaute in den Spiegel und sah auch den Glanz in ihren dunklen Augen, der ihr schon überirdisch vorkam.
Sie war so dankbar. Sie war den Mächten dankbar, von denen die Menschen kaum etwas wußten, aber sie.
Schlagartig verfinsterte sich ihr Gesicht. Auf einmal kehrten die zurückliegenden Ereignisse wieder in ihre Erinnerung zurück. Jetzt wußte sie, weshalb ihr diese Wunde überhaupt zugefügt worden war. Ein Mensch hatte sie mit seinem Messer attackiert, und es hätte ihm nichts ausgemacht, sie aus dem Leben zu stoßen.
Wie bei den anderen.
Himmel, die anderen. Die junge Frau, der junge Mann. Sie hatte ihnen versprochen, Hilfe zu holen, und dieses Versprechen mußte sie halten. Das war sie erstens den anderen, aber auch sich selbst gegenüber schuldig. Marcia fühlte sich wieder fit. Die Hose ließ sie an, denn die Blutflecken störten sie nicht. Aus dem Kleiderschrank nahm sie ein hellblaues T-Shirt und streifte es über.
Den Schlüssel hatte sie an ihren Platz zurückgehängt, jetzt nahm sie ihn wieder in die Hand und verließ das Haus. Das Rad stand dort, wo sie es gegen die Hauswand gekippt hatte.
Locker schwang sie sich auf den Sattel. Da war bei ihr nichts mehr von irgendeiner Schwäche zu spüren, sie fühlte sich wie neugeboren oder wie nach einem langen Schlaf.
Den Weg hatte sie in einer Rekordzeit zurückgelegt. Es war inzwischen später geworden, der, neue Tag hatte den alten abgelöst, in dieser Gegend schliefen die Menschen, und es glitten auch keine lichtscheuen Gestalten mehr durch die Nacht. Zumindest fand sie keine.
Das Engelsblut hatte sie in ein kleines Gefäß gefüllt. Genau soviel, wie sie brauchte.
Jetzt kam es darauf an, ob die beiden noch lebten oder ob der Tod sie in sein kaltes Reich gezogen hatte, denn dann war auch sie mit ihrer Kunst am Ende, denn Tote
Weitere Kostenlose Bücher