093 - Die Toten stehen auf
Orbaniel, verzeih!"
Dorian griff blitzschnell nach dem Ys-Spiegel und hielt ihn hoch. Als das Monster mit dem Fliegenkopf die Spiegelfläche auf sich gerichtet sah, verstummte es sofort.
„Sei nur vorsichtig mit dem Ys-Spiegel!" ermahnte Unga. „Ich möchte nicht, daß er uns eine neuerliche Überraschung beschert."
„Luguri ist gar nicht auf dein Blut scharf, Bastard", zischte Gunnarsson in Richtung des Monsters. „Er hat etwas ganz anderes vor. Wenn er von einem besonderen Blut spricht, dann will er auch wirklich etwas Außergewöhnliches."
Im Tempel gebot Luguri dem Dämon Orbaniel mit einem lässigen Wink seiner Spinnenfinger zu schweigen. Dann griff er an ihm vorbei und berührte die Frau an der Schulter, die bisher schweigend und bewegungslos dagestanden hatte.
„Würdest du mir dein Blut zur Verfügung stellen, meine Liebe?" fragte er freundlich.
Die Frau erbebte unter seinen Worten.
Luguri fuhr kichernd fort: „Du hast nichts zu befürchten, meine Liebe. Ich werde die neunundvierzig Näpfchen mit deinem Blut füllen - und keinen Tropfen vergeuden. Das kannst du mir ruhig zutrauen. Und danach lasse ich das Blut wieder in deinen Körper zurückfließen. Es schmerzt nicht. Ganz im Gegenteil. Meine Behandlung wird dir guttun. Keine Angst!"
Der Erzdämon führte die Frau an der Hand zu dem Opferstein. Die Dämonen schwiegen ehrfurchtsvoll. Nur die Schritte des Erzdämons und seines Opfers waren zu hören, als er sie zu dem Steinquader im Menhirkreis führte.
Dorian hielt den Griff den Ys-Spiegels umkrampft. Langsam, ohne sich seines Tuns recht bewußt zu werden, hob er den Spiegel vor sein Gesicht.
Er durfte nicht zulassen, daß Luguri dieses unschuldige Mädchen zur Ader ließ und ihr Blut trank. Aber lohnte es sich, deswegen die Kräfte des Spiegels zu mobilisieren?
Der Erzdämon richtete sein Opfer auf dem Stein zurecht. Während Dorian noch mit sich um eine Entscheidung rang, betrachtete er die Szene bereits durch die Spiegelfläche, die nun fast so transparent war wie Fensterglas; nur die haarfeinen, in die Spiegelfläche eingeritzten Zeichen störten die Sicht etwas.
„Dorian, was tun Sie da?" hörte der Dämonenkiller Magnus Gunnarssons entsetzten Ausruf. „Luguris Opfer ist Ihre Hilfe nicht wert. Sehen Sie nur, wer die Frau ist!"
Jetzt erkannte Dorian sie. Es war Hekate, die der Erzdämon auf den Opferstein gelegt hatte. Warum hatte er in der Frau nicht schon früher die Herrin der Finsternis erkannt? Ja, jetzt verstand er, was Luguri meinte, als er von einem besonderen Blut sprach, das er für seinen Versuch haben wollte. Dorian brauchte nicht mehr um Luguris Opfer zu bangen. Er dachte auch nicht mehr daran, die Kräfte des Spiegels zu mobilisieren. Dennoch setzte er ihn nicht ab. Er betrachtete die Szene weiterhin durch die dünne, leicht erhabene Fläche aus unbekanntem Material.
Diese Art der Betrachtung hatte einen ganz besonderen Reiz. Es sah alles so unwirklich aus, als hätte die Umgebung gewechselt.
Die Menhire standen nicht mehr in dem unterirdischen Gewölbe, sondern im Freien - unter einem von schweren, grauen Wolken verhangenen Himmel. Jetzt füllten sich die neunundvierzig Näpfchen eines nach dem anderen mit Blut. Kein Tropfen des roten Lebenssaftes ging verloren. Luguri beherrschte diese magische Technik perfekt.
Aber niemand feierte ihn deshalb. Warum huldigten ihm die Dämonen nicht?
Dorian erkannte, daß Luguri nicht mehr Luguri war.
Statt des Erzdämons erblickte er eine seltsam gekleidete Frau. Eine Priesterin. Und sie füllte die Näpfchen mit Blut, ohne einen Tropfen zu verschütten.
Aber das brachte ihr keinen Beifall ein, sondern das Gegenteil: die Zuschauer wurden von nacktem Grauen gepackt.
Denn in Ys wollte man Milch statt Blutsehen.
Mit einmal wurde Dorian bewußt, daß er durch den Blick in den Spiegel in eine vergangene Zeit sah - in die Zeit, als die Megalithenstadt Ys noch nicht in den Fluten des Atlantiks versunken war.
Der Spiegel hatte ihn in seinen Bann geschlagen, und er hatte nicht die Kraft und den Willen, sich daraus zu befreien.
Ys - ferne Vergangenheit
Mirma lag auf dem Lager. Über ihr bleiches Gesicht perlten Schweißtropfen. Ihr Mund war halb geöffnet, die Lippen waren ausgetrocknet und rissig. Eine Priesterin ließ aus einem mit einer säuerlichen Flüssigkeit gefüllten Lederball einige Tropfen auf ihre Lippen fallen. Mirma seufzte dankbar. Ihre geschwollene Zunge leckte über die Lippen.
„Alle Rechten stehen dir bei",
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