093 - Die Toten stehen auf
zur Frau machen."
Der Mann küßte ihm die Hände und lief davon.
Hermon hoffte nur, daß er würde schweigen können. Denn es hing viel davon ab, daß Erggor und die anderen die Wahrheit nicht erfuhren.
Hermon hatte längst geahnt, daß das Böse in Ys eingedrungen war, doch er wußte nicht, ob es bereits Fuß gefaßt hatte. Er war sich auch noch nicht über die dreißig bekehrten Linkshänder, die im Getto lebten, im klaren. Hatten sie dem Bösen endgültig entsagt? Oder hielten sie noch zu Luguri und warteten nur auf sein Zeichen, um das Böse in Ys zu säen?
Hermon wandte sich dem Getto zu. Dort gab es keine Totenhäuser. Er wollte die Bekehrten schließlich nicht in Versuchung führen, denn er wußte, daß bei den Linkshändern die Totenmagie eine ebensogroße Rolle wie bei den Rechten spielte; nur mißbrauchten sie die Toten für dunkle Zwecke. Das Getto lag in einem Randbezirk von Ys. Es war mit besonders hohen Langsteinen umgeben, die Hermon mit seinen wirkungsvollsten magischen Sprüchen versehen hatte. Und jede Hütte hatte zusätzlich ihren Langstein, an dem die Bekehrten in sich gehen konnten.
Als Hermon das Getto betrat, sah er, daß die meisten Bekehrten vor ihren Langsteinen kauerten und scheinbar in Meditation versunken waren. Das beruhigte ihn.
Er ging zu einem der Langsteine, vor dem eine junge Frau kniete. Sie hatte ihre Linke bis zur Schulter hinauf bandagiert und sich den Arm so gefesselt, daß der Unterarm an den Oberarm gepreßt war. Die Bandagen waren mit magischen Symbolen beschrieben, doch erkannte Hermon, daß diese Symbole mit ungelenker Hand geschrieben waren.
„Hast du deine Linke selbst mit Sprüchen versehen?' erkundigte er sich bei der Frau.
„Ja", antwortete sie. „Aber wie du siehst, hat mir meine Rechte noch längst nicht so willig gehorcht, wie ich es gern möchte.“
„Dann hast du dem Blut noch nicht völlig entsagt", meinte Hermon.
„Doch", versicherte die Frau. „Seit ich hier bin, habe ich keinen Gedanken an Blut verschwendet, habe nur an Milch und Honig gedacht, kein Fleisch angerührt, jede Verrichtung mit der Rechten getan und deine Lehren verschlungen. Ich werde am Tage des Feuerlaufens stark sein."
Hermon nickte und überließ sie wieder sich selbst.
Er kam zu einem anderen Langstein. Eine Frau lehnte dagegen, hatte die Arme ausgebreitet - die bandagierte ebenso wie die freie Rechte -, als wollte sie den mit Symbolen bemalten Stein umarmen.
Hermons Augen glitten über die vielen bunten Zeichen, die er selbst auf den Stein geschrieben hatte. Etwas stimmte nicht. Er war plötzlich sicher, daß er die Zeichen nicht in dieser Reihenfolge niedergeschrieben hatte. Jemand hatte sie verändert, so daß sie einen ganz anderen - gefährlichen - Sinn ergaben.
Er packte die Frau an der Schulter und riß sie gewaltsam von dem Langstein fort. Als er sie mit dem Gesicht zu sich herumdrehte, sah er, daß die Haut an den Stellen, wo sie den Stein berührt hatte, hornig und schuppig geworden war. Ihr Gesicht war eine verzerrte Fratze. Sie hatte ein Raubtiergebiß, und die oberen verlängerten Eckzähne hatten sich tief in ihre Unterlippe gegraben, daß das Blut hervorquoll.
Sie schien gar nicht zu merken, welche Veränderung mit ihr vor sich gegangen war, sah Hermon auch gar nicht, sondern starrte nur aus rotglühenden Augen auf seinen Wolf, der sich mit gesträubtem Fell an sein Bein schmiegte. Hermon hatte ihn nach seinem eigenen zweiten Namen Gralon benannt.
„Wolf, ich rieche, daß dein Blut von der gleichen Art ist wie meines. Komm, komm! Wir sind Geschwister des schwarzen Blutes."
Der Wolf winselte kläglich und drängte sich dichter an Hermon. Plötzlich jedoch hielt er die Rute steif und sah die entstellte Frau mit großen Augen neugierig an. Hermon wartete, was nun kommen würde. Seine Hand war in die Tasche seines weiten Gewandes geglitten, und er umfaßte den Stein, in dem das Vollmondlicht eingefangen war.
„Komm zu mir, Bruder!" lockte die Frau, die durch die Berührung mit dem veränderten Langstein entstellt worden war; und sie begann, wie ein Wolf zu heulen.
„Wirst du dieser Verlockung widerstehen können, Gralon?" fragte Hermon seinen Wolf.
Der Wolf begann zu hecheln. Er lockerte seine Rute und rollte sie zwischen die Beine.
Plötzlich erscholl Gelächter und jemand rief: „Mach dem grausamen Spiel ein Ende, Sirfa!"
Und da lachte auch die Frau. Sie wischte sich mit der freien Rechten und den Bandagen der Linken übers Gesicht - und die
Weitere Kostenlose Bücher