093 - Die Toten stehen auf
hornige Schuppenhaut bröckelte wie trockener Lehm ab.
„Nur eine Lehmmaske, Hermon!“ rief sie lachend. „Es war ein kleiner Scherz. um dich auf die Probe zu stellen."
Hermon stimmte in das Gelächter der Getto-Bewohner nicht mit ein; ihm war nicht zum Lachen zumute; er hatte das Lachen längst verlernt.
„Das hier ist aber kein Scherz", sagte er und deutete auf die Symbole des Langsteines. „Wer hat meine Zeichen in einem Maße verändert, daß meine Lehren sinnentstellend verändert wurden?“
Die Getto-Bewohner zeigten sich erstaunt.
„Niemand von uns hat an deinen Lehren irgend etwas verändert", sagten sie. „Wir sind deine gelehrigen Schüler und längst schon ehrliche Rechte. Du hast uns den Weg zum Guten gezeigt, Hermon. Laß es uns beweisen!"
„Das wird am Tag des Feuerlaufens geschehen", erklärte Hermon.
Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß sich die Bekehrten über ihn lustig machten. Doch war ihnen das nicht zu beweisen.
„Bis zum Tage des Feuerlaufens aber bleibt den Langsteinen fern! Sie vermitteln euch falsche Lehren."
Er schritt die Reihe der Langsteine ab und löschte nacheinander mit der bloßen Kraft seiner Gedanken die falschen Inschriften. Er konnte nur hoffen, daß die Bekehrten diese falschen Lehren noch nicht tief in sich aufgenommen hatten.
Als er das Getto verließ, fragte er sich, wer die Symbole der Langsteine zum Schaden von Ys verändert hatte. Es mußte einen Verräter in der Stadt geben, der versuchte, Böses zu säen - und der mächtig genug war, seinen Willen auch durchzuführen.
Eigentlich kam da nur eine der Priesterinnen in Frage.
Es war die erste Vollmondnacht der neuen Periode. Gralon wurde bereits bei Einbruch der Dämmerung von einer unerklärlichen Unruhe erfaßt. Hermon nahm von dem seltsamen Verhalten seines Wolfes jedoch keine Notiz.
Dies war eine Nacht der Vorentscheidung. Er hatte die Priesterinnen mit Dahut an der Spitze zusammengerufen und führte sie zum Totenhaus der Weisen hinaus, das nahe des Frauensteines stand. „Der Frauenstein wird heute nacht einer Jungfrau zum Schicksal", verkündete Hermon den Priesterinnen nur. „Wir wollen deshalb die Toten anrufen und um Rat fragen.
„Ist diese Jungfrau etwas Besonderes?" erkundigte sich Dahut. „Es ist ungebräuchlich, die Ruhe der Toten zu stören, nur weil ein Mädchen zur Frau wird."
Hermon ließ sich mit der Antwort Zeit, bis alle Priesterinnen Platz genommen hatten und nun einen Kreis um das Totenhaus bildeten. Er selbst saß genau dem Seelenloch gegenüber. Dahut saß zu seiner Rechten. Der Platz links von ihm wurde von einer mannsgroßen Lehmpuppe eingenommen - Symbol für das Böse.
„Die Maid ist nichts Besonderes - doch die Umstände sind außergewöhnlich", erklärte Hermon. Hinter ihm kauerte sein Wolf Gralon und winselte. Hermon brachte ihn mit einem Gedanken zum verstummen und ließ ihn zur Bewegungslosigkeit erstarren.
Um allen anderen lästigen Fragen zu entgehen, sagte er: „Es ist dringend notwendig, die Toten anzurufen.“
Da fügte sich auch Dahut.
Die Priesterinnen verfielen in ein leises Gemurmel, mit dem sie sich in Trance redeten. Hermon saß lange bewegungslos und mit verschlossenem Geist da. Erst als er merkte, daß einige Priesterinnen bereits Kontakt miteinander hatten, reihte er seinen Geist in die Gedankenkette ein. Er war jetzt eins mit den Priesterinnen. Ihre Geister verließen die Körper und wanderten in das Reich der Toten ab. Die Körper handelten unabhängig. Hände legten Gaben vor das Totenhaus. Die Geister wanderten weiter - kamen an eine Schwelle.
„Haben wir euch mit unseren Gaben versöhnt?" fragten Hermon und die Priesterinnen.
„Ihr gebt uns nur, was ihr gerade genommen", sagte die Toten.
„Ihr wurdet beraubt? Doch nicht von uns", rief Hermon - und die Geister der Priesterinnen wiederholten es im Chor.
„Wer hat eure Totenhäuser geschändet?" fragten sie.
„Wir nennen Diebe nicht mit Namen. Aber wir kennen sie. Ihre Gesichter haben sich uns unauslöschlich eingeprägt."
„Was wollen die Diebe?"
„Sie wollen uns befehlen."
„Müßt ihr den Befehlen gehorchen?"
„Nein - durch eure Geschenke sind wir wieder reich."
„Und versöhnt?"
„Nicht mit den Dieben."
„Aber würdet ihr uns verraten, was die Zukunft bringt?"
Schweigen.
„Sagt uns die Zukunft voraus!"
Wieder schwiegen die Toten.
Geduldig warteten Hermon und die Priesterinnen. Endlich meldeten sich die Stimmen der Toten wieder.
„Ihr verdient es nicht,
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