0931 - Shinigami
Todesengel mit den goldenen Augen vor dem Fenster des Raumes stehen.
Er verneigte sich hastig vor seinem Kollegen. »Verzeiht mir. Immer wieder begegnen wir uns, aber ich möchte Eure Aufgabe nicht stören«, sagte er.
»Das tust du nicht«, sagte der Todesengel. »Mich hat der gleiche Zauber hergerufen, der auch den Schatten und dich hierher geholt hat. Und noch etwas darüber hinaus. Dieser junge Mann hier ist gezeichnet.« Er wies auf den Burschen, der jetzt aus dem Zimmer eilte. Wahrscheinlich um etwas zu holen. Die dritte Person, eine junge Frau, die dem Shinigami vage bekannt vorkam, kümmerte sich nach wie vor intensiv um die Person, die den Trance-Anfall gehabt hatte. Die Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, lag jetzt still auf dem Sofa und warf sich nur noch unruhig herum, als träume sie schlecht. Ihr Krampfanfall schien vorbei zu sein.
Der Todesengel trat einen Schritt vor. Der Shinigami bemerkte überrascht, dass er trotz des eleganten dunklen Anzugs weder Strümpfe noch Schuhe trug. Seine riesigen rabenschwarzen Schwingen raschelten, als er die Flügel kurz streckte. Dann sah er den Shinigami wieder aus den bernsteinfarbenen Augen an und gleichzeitig durch ihn hindurch. »Wir werden hier nicht mehr gebraucht«, sagte er. »Nicht heute. Aber sieh dich vor. Der Schatten, den du suchst, ist mit einer dieser beiden Frauen eng verbunden. Kümmere dich um deine Aufgabe.« Er nickte dem Shinigami zu. »Ich werde mich um diesen Jungen kümmern. Er heißt Prosper Leloux und wird in Kürze sterben. Solltest du mich noch einmal brauchen, dann verneige dich nach Osten und rufe mich bei einem meiner Namen: Uriel.« Damit wurde die Gestalt des Todesengels blasser und durchsichtiger, bis er schließlich verschwand.
Der Shinigami betrachtete eingehend die Zeichen auf dem Boden. Es waren die gleichen, die er auch bei diesem alten Ehepaar gesehen hatte. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, woher er diesen lilafarbenen Rock kannte.
Er nickte leise in sich hinein. Diese junge Weißmagierin, die sich ihre Haare in Hunderte kleiner Zöpfe geflochten hatte. Sie war auch beim letzten Mal da gewesen, als er geglaubt hatte, den Schatten gefunden zu haben. Ins Zimmer war nun Ruhe eingekehrt. Prosper Leloux, der laut dem Todesengel Uriel mit dem Tod gezeichnet war, hatte das Zimmer verlassen und der Shinigami zog es vor, zu gehen, bevor die junge Weißmagierin ihn sehen und mit seinem Versagen konfrontieren konnte. Ihr schien viel an der Person auf dem Sofa zu liegen. Vielleicht gab sie ihm die Schuld an der schlechten Verfassung ihrer Gefährtin und er würde nicht begründen können, warum er den Schatten schon wieder nicht gefangen hatte. Er tröstete sich damit, dass er sie schon bald wiedersehen würde. Immerhin hatte sie mit diesen Kreidezeichen die magische Energie beschworen, die ihn gerufen hatte, und das bereits zweimal.
Er war jetzt - und besonders nach den Worten Uriels - sicher, dass sie damit auch den Schatten gerufen hatte. Er beschloss, die junge Frau aufzusuchen und mit ihr zu sprechen. Vielleicht konnte sie zur Zusammenarbeit bewogen werden, immerhin sollte er auch sie nach Japan bringen. Sicher war sie von seinem Auftraggeber geschickt worden, um ihm zu helfen, den Schatten zu fangen. So, wie ihm aufgetragen war. Ja, so war es richtig, selbst dieser Uriel hatte das so gesehen.
Zufrieden mit diesem Entschluss, verneigte er sich noch einmal in Richtung Osten, um dem Engel Uriel zu danken.
***
Wie oft habe ich diesen Satz jetzt schon gelesen? , fragte sich Nicole und rieb sich die Augen. Die Buchstaben auf dem flachen Bildschirm ihres Laptops verschwammen vor ihren Augen. Sie stützte erschöpft das Kinn in die Hand. Den Bruchteil einer Sekunde später stöhnte sie leise auf und griff sich hinten an den Ischiasnerv.
»Und wie lange ich hier schon sitze, will ich eigentlich auch nicht mehr wissen«, knurrte sie halblaut und angelte sich ihre Teetasse. Sie war leer - schon wieder. Seufzend stand Nicole auf und ließ den Internetartikel über japanische Volkskunde für einen Moment links liegen.
Was habe ich eigentlich bisher erreicht? Nichts. Und dabei will Landru meinen Bericht bis zum Ende der Woche haben! Nicht einmal eine Möglichkeit, den Shinigami, wie der japanische Totengeist wohl genannt wurde, zu beschwören oder aufzutreiben, hatte sie gefunden. Er war offenbar einer der Millionen verschiedener Kami, der Shintogötter. Ein Shinigami war kein Dämon, sondern ein Geist, der die Seelen der Toten
Weitere Kostenlose Bücher