0934 - Der Schlüssel zur Quelle
auch nicht mit Zamorras Argumenten anfreunden. Einen Freund darüber im Unklaren zu lassen, in welcher Gefahr dieser schwebte… Nein! Das war falsch, und das blieb falsch. Egal, wie man es verpackte. Rhetorik mochte eine Kunst sein, doch auch sie konnte keine Fehler überdecken, die zum Himmel schrien.
Die Erbfolge hatte Rhett einige Lasten auferlegt. Er wusste, was Verantwortung war und wie schwer sie einen Menschen herunterziehen konnte. Sein magisches Erbe kam ihm mitunter wie ein Fluch vor, der ihn auf ewig von dem Leben Gleichaltriger trennen würde. Jenseits dieser regennassen Felder dort draußen gab es Unmengen an Sechzehnjährigen, die ihr alltägliches Leben lebten und nichts von der Hölle, nichts von Lucifuge Rofocales Vermächtnis und Krychnaks Intrigenspiel wussten. Jemand wie Asmodis beispielsweise, der vor Kurzem noch hier gewesen war, mochte für diese Jugendlichen nicht mehr als ein cooler Name sein. Aber nicht für Rhett.
Klar wünschte er sich gelegentlich, mit den »Normalen« da draußen tauschen zu können. Und wenn er seiner Mutter in die Augen sah, glaubte er zu erkennen, dass es ihr - allen anderslautenden Äußerungen und Gesten ihrerseits zum Trotz - ähnlich ging. Gehen musste. Zumindest in ihren wenigen schwachen Momenten.
War das nicht normal? Eine gesunde Reaktion auf eine ungesunde Situation?
Das furchtbare Erlebnis mit Krychnak hatte Rhett erst kürzlich wieder davon überzeugt, dass sein eigenes Dasein alles andere als friedlich und gesittet verlief. Doch Rhett wusste auch, in wessen Fußstapfen er stand. Welche Bedeutung er hatte, welche Aufgabe. Er hatte erkannt und verinnerlicht, was aus der Welt würde, wenn es ihn nicht gäbe und seine Vorfahren nicht gegeben hätte. Er kannte den Preis. Und er zahlte ihn.
Denn er war Rhett Saris ap Llewellyn, Sohn von Bryont Saris ap Llewellyn. Er war sechzehn, wie so viele, würde aber zweihundertsechsundsechzig Jahre alt werden, denn in seinen Adern floss das Blut des Erbfolgers und verwandelte ihn vom sechzehnjährigen Teenager zum letzten Sprössling einer langen und wichtigen Dynastie. Zum Zünglein an der Waage des Universums selbst. Und so etwas verpflichtete - ob es Rhett gefiel oder nicht. Er war nun mal kein Mensch wie die anderen. Kein »Normaler«. Also durfte er sich auch nicht mit ihnen vergleichen. Es mochte schwerfallen, dies zu akzeptieren, aber das änderte nichts an den Tatsachen. Und es traf, Rhetts bescheidener Ansicht nach, auch auf Dylan McMour zu.
Da fiel ihm ein, dass keineswegs sicher war, ob er zweihundertsechsundsechzig Jahre alt werden würde. Gut, er war der letzte Erbfolger . So hatte Lucifuge Rofocale es konzipiert. Doch was geschah nun, da die Verwandlung zu Xuuhl gescheitert war? Würde die Erbfolge dennoch enden, wie vorgesehen? Oder würde sie weiter und weiter und weiter gehen - ein endloses, sinnloses Martyrium?
»Wer mehr weiß, kann auch mehr bewegen«, murmelte Rhett gedankenverloren und ein wenig trotzig.
Zamorra legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mir gefällt das genauso wenig wie dir. Aber unter den Umständen halte ich es wirklich für das Beste. Zumindest bis auf Weiteres.«
Bis auf Weiteres… Rhett unterdrückte den Drang, einfach loszulachen. Hatte ihnen der Morgen nicht gezeigt, wie schnell sich »bis auf Weiteres« änderte? Wer garantierte ihnen denn, dass sich die Vorzeichen, unter denen sie hier standen und Strategien besprachen, nicht binnen Sekunden wieder grundlegend wandelten? Dies war das Château Montagne, Herrgott noch mal! Hinter diesen Mauern war niemand vor Überraschungen gefeit! Schon im nächsten Augenblick mochte jemand um die Ecke gerannt kommen und…
»Es ist Anne!« Dylans Ruf riss den Erbfolger aus seinen Gedanken. Der quirlige Schotte war um die Ecke des Flures gebogen und rannte nun den Gang entlang in Richtung Ausgang, gestikulierte dabei aufgeregt mit den Armen, als wolle er Zamorra und Rhett damit auffordern, sich im anzuschließen. »Anne Crentz… beziehungsweise Anka… ähm, na, Anne eben! Sie steht draußen. Sie ist zurückgekehrt.«
Dylan verlangsamte seinen Schritt nicht. Noch bevor Rhett und der Professor auch nur reagieren konnten, war der junge Mann schon außer Sicht. Auf dem Weg ins Freie und zu einer Person, deren Motive ihren eigenen entgegenlaufen mochten.
Ohne Schutz.
»Bis auf Weiteres, ja?«, murrte Rhett ungehalten. Dann wandte er sich um und rannte seinem Freund hinterher, so schnell ihn seine Füße trugen. Und mit jedem Meter
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