0936 - Schattentheater
hatte -, sah Nicole Ieyasu an, der ihr im Gegensatz zu gestern direkt in die Augen sah. Es hatte etwas Herausforderndes. Plötzlich habe ich Angst vor ihm. Warum nur?
Ieyasu verneigte sich noch einmal, ohne den Blickkontakt zu ihr zu unterbrechen. »Ich hoffe sehr, dass Sie sich von mir heute Abend erneut auf eine Gesellschaft zur Feier der Premiere des Stückes Der Jimmu-Tennô erhält das Schwert Grasschneider einladen lassen.« Damit verneigte er sich elegant und ging davon. Seine Schritte schienen um einiges kraftvoller als gestern zu sein, und Nicole lief wieder ein Schauer über den Rücken, als sie hinter ihm herstarrte. Warum hatte er sie so direkt angesehen? Selbst Minamoto hatte ihr bisher nur selten in die Augen gesehen und Nicole wusste aus ihrem Reiseführer, dass es als unhöflich galt, das zu tun. Das Verhalten Ieyasus war eindeutig seltsam. Aber lag das wirklich an dem Dämon, den sie und Minamoto in ihm vermuteten?
Nicole hatte sich selten so hilflos gefühlt. Ein Land, in dem mir nicht nur die Menschen, Gebäude und die Schrift fremd vorkommen. Auch die Seelen der Menschen und die Geisterwelt sind mir so unverständlich, als hätte ich nicht bald 40 Jahre als Dämonenjägerin hinter mir. Ich habe immer geglaubt, es gebe auch in unterschiedlichen Kulturen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.
Ich glaube, gerade zweifle ich das erste Mal in meinem Leben daran.
»Ich sehe, Ihnen ist die Veränderung von Ieyasu aufgefallen«, sagte Minamoto leise.
»Ja, in der Tat«, erwiderte Nicole. »Und eigentlich kann so eine Änderung im Benehmen nur eine Ursache haben. Sie haben recht und Ieyasu ist von einem Dämon besessen. Und dieser gewinnt an Macht.«
»Ich habe mit ihm gesprochen«, meinte Minamoto. »Man muss bedenken, dass er Schauspieler ist, aber ich bin sicher, dass er den Dämon, der in ihm ist, nicht selbst gerufen hat. Ieyasu war immer stolz, dass seine Kunst sein Verdienst ist. Er würde nicht zulassen, mit fremder Hilfe seine Ziele zu erreichen.«
Nicole zuckte hilflos mit den Achseln. »Es steht fest, dass wir etwas unternehmen müssen. Verraten Sie es nicht Monsieur Landru, aber ich habe einige Waffen gegen Dämonen bei mir.«
»Das habe ich mir gedacht. Ich werde Sie später vor der Abendvorstellung noch einmal ins ryokan bringen und mich mit meiner Tante besprechen. Dort können wir uns ungefährdet austauschen.« Er schwieg und Nicole schreckte aus ihren Gedanken auf.
»Ja, das ist eine gute Idee«, sagte sie schnell. Doch sie fürchtete selbst, dass es ein wenig zu schnell gewesen war.
»Madame, die Stelle, auf die Sie so konzentriert sehen«, fragte Miriamoto zögernd. »Haben Sie dort etwas Besonderes entdeckt?«
»Nein… Doch«, gab Nicole beinahe sofort zu. Dieses Land hatte genug Geheimnisse und sie hatte sie mehr als satt. »Ich stand gerade dort hinten an diesem Bambusbrunnen und sah hierher. Und da dachte ich für einen Moment, ich hätte an dieser Stelle dort eine Maneki Neko gesehen.«
Sie fühlte die Augen Masaburo Minamotos auf sich ruhen. Er sagte lange nichts. »Eine Winkekatze«, brachte er schließlich heraus. »Ich kann jetzt dort keine entdecken.«
»Ich auch nicht«, sagte Nicole leichthin und lächelte den Japaner an. »Aber ich bin dennoch sicher.«
»Nun, Madame, ich glaube Ihnen. Vielleicht ist es aber klüger, wenn wir uns jetzt nicht auch noch damit befassen«, sagte Minamoto nach einer Pause. »Un à un, eines nach dem anderen, wie man bei Ihnen sagt. Lassen Sie uns ins ryokan fahren, dass meine Tante Ichiko uns für heute Abend rüsten kann.« Damit drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging zurück ins Haus.
Nach einem letzten Blick auf die Felswand und das unverändert herabrauschende Wasser ging Nicole ihm langsam nach.
Sie hatte den Eindruck, als blinke es kurz hinter dem Vorhang aus glitzernden Tropfen, aber dieser Eindruck war zu kurz, als dass sie es für mehr als nur eine Illusion hätte halten können.
***
Nicole musste blinzeln, als sie hinter Minamoto ins Haus trat. So hell es draußen war, so dämmrig war es hier hinter den mit Reispapier bespannten Wänden. Wieder glaubte Nicole, in eine andere Zeit einzutreten, ein Eindruck, der durch die dissonanten Klänge, die aus dem Bühnenraum kamen, verstärkt wurde. Sie musste stehen bleiben, das Glitzern des Wassers und das noch flach wirkende Licht der Frühlingssonne hatten sie mehr geblendet, als sie selbst vermutet hätte. Es dauerte eine Weile, bis sie innerhalb des Gebäudes
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