0936 - Schattentheater
wieder etwas erkennen konnte.
Als sie in den Theatersaal kam, war auch dieser dunkel. Nur die Bühne lag im Licht, anders als noch vorhin, als der Saal voll beleuchtet gewesen war, da es nur um erste Proben zu dem neuen Stück ging. Die Musiker vor der stilisierten Kiefer, die man auf die hintere Bühnenwand gemalt hatte, saßen still. Dennoch hörte sie die Musik, auch ein obertonaler Gesang erklang. Es klang unheimlich, gar nicht wie die Musik der gestrigen Aufführung. Nicole musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass die Männer ihre Finger über die Instrumente bewegten. Oder bildete sie sich das nur ein?
Was ging hier vor? Hatte Ieyasu jetzt auch das Stück vom Jimmu-Tennô und dem Schwert Grasschneider vom Programm genommen und führte stattdessen mongolischen oder indischen Gesang vor? Oder war eine Lichtprobe angesagt? Sie versuchte, in den leeren Stuhlreihen Minamoto ausfindig zu machen, doch sie sah niemanden.
Nur die Musiker auf der Bühne. Der Zuschauerraum war leer. Nicht einmal die üblichen Angestellten, Kostümbildner, Lichttechniker oder Requisiteure saßen vereinzelt da.
War Minamoto mit Ieyasu im Büro? Hinter der Bühne, in der Garderobe?
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Ihre Hand schloss sich eng um den Dhyarra, den sie in der Tasche ihres Blazers bei sich trug. Sie beschloss, fürs Erste an der Tür stehen zu bleiben und zu sehen, was als Nächstes passierte. Vielleicht war ja alles ganz anders - ganz normal.
Doch in den nächsten Minuten änderte sich nichts. Nichts erhellte den Zuschauerraum, nicht einmal die obligatorischen grünen Lampen über den Notausgängen, nur der eine Scheinwerfer, der das wie in Trance dasitzende und musizierende Orchester beleuchtete, strahlte umso greller. Und er schien sogar noch greller zu werden. Gleichzeitig bekam auch die Musik eine drängendere und lautere Note, die Nicole immer nervöser werden ließ. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Plötzlich war der große Saal erfüllt von einer durchdringend geisterhaften Atmosphäre, die wie giftige Rauchschwaden hin und her waberte und alles zu durchfluten schien. Nicole konnte den Atem des Bösen deutlich fühlen, wie er sie umwehte und durch sie hindurchfloss. Sie konzentrierte sich und stellte sich vor, dass sie einen unsichtbaren Abwehrschild um sich hatte, der das verhinderte. Beinahe sofort spürte sie, wie das unangenehme Gefühl verschwand. Das Böse war zwar noch da, aber es konnte sie nicht mehr berühren. Sie speicherte das Bild in einem unbenutzten Winkel ihres Gehirns ab und überlegte. Wo war Minamoto?
Hier ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Und vielleicht hat dieser Dämon gar nichts mit dem Stück oder mit den Rollen zu tun, die Ieyasu übernommen hat. Vielleicht war das alles nur ein Irrtum und wir müssen ganz woanders ansetzen!
Für einen Moment blitzte das unzufriedene Gesicht Louis Landrus in ihrem Geist auf. Er hat recht , dachte sie. Ich muss rausfinden, was hier los ist. Sie musste Minamoto suchen. Sie hatten zu zweit bessere Chancen, das Rätsel zu lösen.
Sie wollte sich schon umdrehen und den Saal verlassen - vielleicht kam man von hinten an die Bühne heran, als sie aus den Augenwinkeln Nebelschwaden wahrzunehmen glaubte. Doch als Nicole sich umdrehte und zur Tür hinauswollte, ging diese nicht auf.
Sie war verschlossen und Nicole in der Finsternis gefangen. Der Oberton-Gesang schwoll zu einem schaurigen Crescendo an.
Da erklang ein grausamer Schrei, dessen Ursprung Nicole nicht feststellen konnte.
Die Musik brach ab.
***
Minamoto sah sich kurz um und durch die offene Flügeltür des Zuschauerraums hinaus ins Foyer. Eine der shô-jis , der Schiebetüren, stand noch offen, und Julie Deneuve stand unbewegt in den Sonnenstrahlen, die durch die Tür auf die Bodenmatten fiel. Nachdenklich betrachtete er die junge Französin. Sie hatte ebenfalls eine Maneki Neko hinter dem Wasserfall gesehen! Was hatte das nur zu bedeuten? Diese Katzen waren nichts als reiner Aberglaube, mit dem man Hausfrauen beruhigte und die man Touristen als Souvenir andrehte!
Masaburo Minamoto war sicher, dass nichts weiter dahintersteckte. Irgendetwas auf der Felswand führte dazu, dass man in einem bestimmten Lichteinfall und von einem bestimmten Winkel aus eine Katze sah. Es hätte zu Koichi Ieyasu gepasst, ein solches Detail in seinen Garten einzubauen.
Julie Deneuve rührte sich immer noch nicht. Minamoto wollte schon fragen, ob ihr etwas fehle, als er auf einmal das
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