0936 - Schattentheater
als in die Welt der Gestorbenen einzugehen - oder eben in die der Götter. Es war ihm nur in Ausnahmefällen gestattet, diesen Gesang anzuwenden, denn es störte die Ordnung der Dinge, wenn man in einen bereits begonnenen Prozess eingriff. Dennoch, er wusste, durch diesen Gesang waren immerhin alle Wesen im näheren Umkreis, deren Seele und Körper noch eine Einheit bildeten, geschützt.
Doch plötzlich schrie jemand auf.
Die gequälte Seele! Erschrocken und verwirrt hielt der Shinigami inne. Hatte das Lied, das ihn der ihm übergeordnete Geist gelehrt hatte, versagt? Das konnte nicht sein. Sein Herr war unfehlbar.
Wieder schrie jemand auf und der Shinigami besann sich auf seine Aufgabe. Sein Gesang hob wieder an, die Musiker begleiteten wie in Trance sein Lied, das sowohl die Weißmagierin als auch alle Menschen in diesem Gebäude vor jeglicher dämonischen Präsenz schützen konnte und alles Böse darin vertrieb. Plötzlich sah er mit Schrecken, wie die Weißmagierin mit aller Kraft auf die Bühne zurannte, hin zu dem Ort, an dem sich die unheilvolle Präsenz befand.
Sie begab sich in Gefahr! Sicher meinte sie es gut, doch jetzt blieb dem Shinigami nichts weiter übrig. Er musste sichtbar werden. Er zog sein Katana und ließ es einmal durch die Luft wirbeln, um die Magie der Klinge zu wecken.
Er spürte, wie die Zeit stehen blieb.
***
Mit einem Ruck stieß Nicole die Tür zur Garderobe auf und riss den dunklen Samtvorhang, der den Wandelgang der Bühne von den Zimmern dahinter trennte, fort. Doch statt in den Raum zu stürmen, blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte auf das Bild, das sich ihr bot.
Zwei Personen hatten sich zu einem scheinbar unentwirrbaren Knäuel auf dem Boden ineinander verschlungen. Doch sie wälzten sich nicht umher, sie bewegten nicht einen Muskel. Beide Gestalten waren offenbar mitten in ihrem Kampf erstarrt. Nichts rührte sich. Selbst das schwarze Haar des einen stand ungeachtet aller physikalischen Gesetze hoch in der Luft.
Und auch wenn Minamoto - der nur an dem dunklen Nadelstreifenanzug erkennbar war, eng von einem grünlichen Energienetz eingeschlossen war, auch dieses schien mitten in der Bewegung stehen geblieben. Es waberte nicht, und so dankbar Nicole dafür war, dass es diesmal besser funktioniert zu haben schien als bei Tanabe gestern Abend, sie fragte sich, ob es so überhaupt wirksam sein konnte.
Die beiden liegen da, als sei die Zeit stehen geblieben , dachte Nicole. Der Gedanke brachte in ihr eine Saite zum Klingen und sie suchte hastig in ihrem Gedächtnis nach der Lösung.
Paris. Das Restaurant Ô Beau B'art . Die Menschenmenge davor, neben der Kastanie. Sirenen eines Krankenwagens in der Ferne. Alphonsines Tod.
Der Shinigami ist hier. Er hat die Zeit angehalten. Wie damals in Paris, kurz nach Alphonsines Tod, er sagte, das könne er in Ausnahmefällen. Auf einmal wurde ihr durchdringend kalt.
»Die verehrte Weißmagierin hat recht. Ich war es, der die Zeit angehalten hat, um die bedrohte Seele und ihren Körper zu schützen. Bitte, Eile tut not. Wir müssen diese beiden voneinander trennen.«
Damit ging der Shinigami auf Ieyasu und Minamoto zu. Nicole folgte ihm hastig, bückte sich und versuchte, die Männer, die sich offenbar in einem heftigen Nahkampf miteinander befunden hatten, voneinander zu trennen. Schon bald keuchte sie, denn obwohl der Totengeist die Zeit angehalten hatte, änderte das nichts an der Anspannung der Muskeln der Kontrahenten.
»Bitte, Verehrte. Wir müssen uns beeilen.«
»Warum?«, fragte Nicole und versuchte zähneknirschend, Ieyasus Finger, die sich in Minamotos Rücken gekrallt hatten, einen nach dem anderen zu lösen. Möglichst, ohne sie ihm dabei zu brechen. »Ist dein Zauber zeitlich begrenzt? Das hast du damals in Paris aber nicht erwähnt.«
»Nein«, sagte der Shinigami und seine Stimme klang so unruhig, dass Nicole kurz aufsah, bevor sie sich an den nächsten Finger machte. Wie konnte man sich so an - nein falsch - in jemanden verkrallen? Als habe Ieyasu daran geglaubt, dass er so etwas wie Vogelkrallen besitzt!
»Die verehrte Weißmagierin hat recht. Mein Zauber ist nicht begrenzt. Aber es ist etwas hier, das stärker ist als dieser Zauber. Ich bin nur ein Totengeist und nicht allmächtig.«
Nicole ließ Ieyasu verblüfft los. »Stärker als du? Was ist stärker als du?«
Der Shinigami machte eine Pause. Er kniete vor Nicole und hatte sein Gesicht hoch erhoben. Es sah grimmiger aus denn je.
»Es ist
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