0942 - Die blutige Lucy
fest. Er selbst stand jetzt im Licht, aber er suchte die andere Person, die sich irgendwo verborgen hielt.
Sekundenlang geschah nichts. Der Mann fühlte sich wie ein Stück Holz. Er drehte dann den Kopf, hielt aber die Laterne fest, und als er über seine Schulter hinweg nach links schaute, da sah er die schwankende Bewegung der Frau.
Sie war verdammt nahe an ihn herangekommen. Er tat, was er tun mußte. Wuchtig schleuderte er die Sturmlaterne auf die Gestalt zu, in der Hoffnung, ihren verdammten Schädel erwischen zu können, was aber nicht klappte, denn die Untote tauchte weg.
Bevor die Leuchte wieder in seine Richtung schwang, hatte sich der Fischer auch geduckt, war unter ihr hinweggetaucht und machte sich auf die erneute Suche.
Er sah sie auf einer der noch geschlossenen Luken stehen. Sie hatte sich breitbeinig hingestellt, die Arme gespreizt, den Kopf zurückgeworfen, damit der Wind mit ihrem langen Blondhaar spielen konnte.
Und sie lachte.
Sie lachte wie eine Teufelin den Sturm an. Ihre weiße Haut leuchtete in dem großen Ausschnitt, und genau diese Stelle visierte der Fischer an.
In dieses Fleisch wollte er den Enterhaken versenken. Er sprang auf die Frau zu, holte bereits aus, als sie ihren Kopf wieder nach vorn drückte.
Dann schlug er zu.
Er hatte dabei geschrieen und die Augen geschlossen. Er wollte einfach nicht zuschauen, wie der Haken in den Körper hineinschlug und dort eine Wunde riß. Der Haken steckte auch fest, aber nicht im Fleisch der Frau, sondern in einem Stück Kantholz.
Die Vampirin war dem Treffer entkommen.
Sie lachte wieder.
Und dann war sie an der Reihe. Mit den Füßen zuerst sprang sie den Mann an. Sie erwischte ihn im Unterleib. Der Fischer fiel zurück. Er prallte gegen den Segelmast, sah Sterne, dann aber nur noch die Dunkelheit, als die Unheimliche über ihm zusammenfiel, in sein Haar griff und sich den Kopf zurechtlegte, wobei sie die Haut am Hals noch straffte.
Das war ideal.
Und wieder biß sie zu. Sie hatte längst nicht genug. Sie würde nie genug haben.
Nie und nimmer…
***
Es gab Zeugen für die Untaten. Das Meer, den Himmel und die Wolken. Aber diese Zeugen schwiegen, und Lucy fühlte sich wie neugeboren. Sie hatte es geschafft. Sie war satt. Zweimal hatte sie Menschen aussaugen können, und jetzt fühlte sie sich riesig. Auch die Opfer würden zu Vampiren werden, das wußte Lucy.
Aber wollte sie es auch?
Noch konnte sie es sich überlegen, denn die beiden Gestalten lagen auf dem Deck, ohne sich zu rühren. Sie waren noch nicht erwacht. Der Strom hielt sie zwar umfaßt, aber er hatte sie noch nicht in ihre neue Existenz hineingespült.
Ihr Helfer war verschwunden. Sie war auf sich allein gestellt. Und sie mußte auch allein entscheiden.
Sie war bereits dabei, das Land zu verlassen. Irgendwann würde sie irgendwo wieder ein Ufer finden, wo sie an Land gehen konnte. Aber es war noch längst nicht soweit. Sie wollte sich zunächst auf das Meer hinaustreiben lassen, Nahrung hatte sie genug genossen. Später würde sie dann weitersehen.
Noch segelte sie durch die Nacht. Sie hörte den Stoff knattern. Der Wind umbrauste ihre Ohren. Er zerrte an ihren Haaren, und er kam ihr plötzlich vor wie ein Gefährte.
Sie dachte daran, daß dem Wind die ganze Welt gehörte. Plötzlich wollte sie so werden wie der Wind. Auch ihr sollte die Welt gehören, sie würde woanders hingehen, in ein fremdes Land, wo auch Menschen lebten, in deren Körpern Blut floß.
Und irgendwann in einer fernen Zeit würde sie wieder zurückkehren in die Heimat.
Die blutige Lucy!
Ihr gefiel der Name. Sie dachte auch an das Tagebuch, das sie zurückgelassen hatte. Es würde den Nachkommen ein Rätsel aufgeben, aber es würde auch dafür sorgen, daß sie nicht in Vergessenheit geriet.
Lucy Tarlington ging zu ihrem ersten Opfer und wuchtete es hoch. Es klappte alles so leicht. Nach dem Genuß des Lebenssaftes fühlte sie sich dreimal so stark wie vorher.
Mit ihrer Beute trat sie dicht an das Schanzkleid des Bootes, das in diesem Moment nach steuerbord drängte, was für Lucy sehr günstig war. Sie ließ die blutleere Gestalt über den oberen Holm hinweg in das Wasser rutschen, wo die Wellen sofort zupackten und sie verschlangen. Danach kümmerte sich Lucy um den anderen. Auch er wurde zu einer Beute des Meeres.
Dann war sie zufrieden.
Ihr gehörte das Schiff.
Ihr gehörte die Welt.
Und ihr gehörte das Blut!
***
Lucy Tarlington hatte nicht bemerkt, wie stark sie die letzten
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