0943 - Das Vampir-Phantom
worden, und er vergaß in den folgenden Sekunden auch die Wolke, denn einzig und allein Lucy interessierte ihn, wobei er auch an ihr Versprechen dachte, denn sie hatte ihm erklärt, ihn nicht im Stich lassen zu wollen.
Das hatte sie nicht. Sie war gekommen. Sie war jetzt bei ihm. Aber, so fragte er sich, warum freute er sich nicht? Warum kein innerliches Jubeln? Kein schnelles Herzklopfen, wie es eigentlich hätte normal sein müssen.
Statt dessen Magendrücken und Angstgefühle.
Die kalte, klebrige Angst. Dieses Gefühl der bohrenden Furcht, das Grauen, das ihm als Bruder der Kälte vorkam, denn er spürte es wieder auf seinem Gesicht.
Er saß, Lucy stand. Und so mußte Radonescu in die Höhe schauen, um in ihr Gesicht sehen zu können. Sie trug das rote Kleid noch. Sie bewegte sich wie eine Königin, sie ging über den Boden, aber sie war nicht zu hören.
Und sie lächelte!
Dieses Lächeln kam dem Mann so unwirklich vor wie die gesamte Situation, in der er steckte.
Lucy, seine Lucy, seine Königin. Sie hatte ihr Versprechen gehalten. Sie war gekommen. Er hätte jetzt jubeln und ihr die Hände entgegenstrecken müssen, aber er tat es nicht.
Er saß da wie erstarrt. Er schaute sie nur an. Er war wie von der Rolle. Es war vorbei, es war…
Seine Gedanken sickerten weg, denn Lucy Tarlington hatte sich nach vorn gebeugt, um ihn noch direkter anzuschauen. Plötzlich sah er nur ihr Gesicht, das sich in all der Zeit, in der er Lucy kannte, überhaupt nicht verändert hatte.
Es gab keine Falten, keine Erschlaffung der Haut, egal wo. Überhaupt keine Ermüdungserscheinungen, und das raste ihm gerade jetzt durch den Kopf.
Warum nicht?
Er sah nur sie.
Und sie lächelte noch immer auf ihre besondere Art und Weise, was bei Radonescu ein Frösteln hinterließ, als säße er in einem eisigen Keller fest.
Sie öffnete den Mund. Sehr langsam zog sie die Oberlippe zurück, um ihm die Zähne zu zeigen.
Zähne?
Nie hatte er sie gesehen! Jetzt starrte er sie an, und es kam ihm so vor, als wären sie von innen her beleuchtet. Er sah nur sie, und er sah die beiden spitzen Hauer, die von den anderen abstachen.
Das waren keine menschlichen Zähne, die gehörten einem Vampir!
Lucy war ein Vampir. Sie saugte das Blut der Menschen, und sie lebte davon.
Er wollte schreien, aber Lucys Lächeln verhinderte es, zudem schüttelte sie den Kopf, während sich ihr Gesicht dem seinen immer mehr näherte. »Was habe ich dir versprochen, mein Freund? Was hatte ich dir gesagt? Ich lasse dich nicht im Stich, und ich habe mein Versprechen gehalten. Ich bin noch stärker geworden, weißt du das? Noch stärker, denn ich habe meinen Beschützer wiedergefunden.« Jetzt streckte sie dem Mann auf der Pritsche auch ihre Hände entgegen, doch sie berührte seine Wangen nur mit den Fingerkuppen.
Wieder wurde ihm eiskalt. Er hatte den Eindruck, abermals von einem Hauch erwischt worden zu sein, aber die Finger wanderten an seinem Gesicht entlang nach unten.
Streiften über die Wangen, berührten die Mundwinkel, während der Mann regungslos auf dem Bett saß. Er war in einem Eisblick gefangen, und ebenso eisig kam ihm auch der noch in der Zelle lauernde und wartende Schatten vor.
»Ich werde dich küssen!« hauchte Lucy. »Ich werde dir meinen speziellen Kuß übermitteln. Den Kuß der Blutfrau, mein Freund. Du wirst zu uns gehören, und die anderen werden sich wundern, das schwöre ich dir. Freust du dich?«
Radonescu konnte nicht sprechen. Er lag still, einfach nur still. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, daß er wieder zurück auf das Bett gedrückt worden war.
Nun lag er da mit offenen Augen und starrte in das Gesicht, gegen den Mund, gegen die Zähne, die dann aus seinem Blickfeld gerieten, weil Lucy den Kopf drehte.
»Es ist so wunderbar«, flüsterte sie dicht an seinem linken Ohr. Zugleich preßte sie mit einem Klammergriff seinen Kopf zur anderen Seite, dann zuckte der Kopf vor, und ihre Zähne hackten in die Haut.
Radonescu versteifte. Auf einmal kam er sich vor wie eine Figur. Er war kalt geworden. Es gab ihn nur mehr aus Stein, aber etwas Warmes floß aus den kleinen Wunden hervor, die von zwei Frauenlippen völlig abgedeckt wurden.
Lucy saugte. Lucy trank sich satt. Lucy war zufrieden, denn jetzt hatte das Spiel für sie erst richtig begonnen.
Hinter ihr stand die Wolke mit dem Phantom, auf das sie sich absolut verlassen konnte.
Wie lange sie über dem Mann gelegen hatte, wußte sie nicht. Sie richtete sich erst auf, als sie
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