0943 - Herren aus der Tiefe
setzte seinen Weg fort. Jenny und Andy taten es ihm gleich, wobei die Journalistin Gryf immer wieder fragende Blicke zuwarf. Sie wartete wohl darauf, dass er das Heft in die Hand nahm, die Situation wendete. Doch er hatte keinerlei Veranlassung dazu. Sie waren dort, wo sie sein wollten: in Menderbits Heim. Solange keine unmittelbare Gefahr bestand, würde Gryf diese Sache laufen lassen. Schließlich wurde es Zeit, dass ihr Mister X sich erklärte. Nach all der Aufregung und der Recherche hatten sie sich ein paar Antworten verdient - wenn sie Opfer spielen mussten, um sie zu bekommen, war das eben so.
Der reiche Mäzen begrüßte seine unfreiwilligen Gäste im Eingangsbereich seines Hauses, einer bis zur Decke reichenden kleinen Halle, die von einer breiten, marmornen Treppe dominiert wurde. Büsten standen in den Ecken, geschmackvoll drapiert. Von den Wänden hingen - sorgfältig gerahmt und hinter streifenfrei gewienertem Glas - Titelbilder wichtiger Wirtschafts- und Wissenschaftszeitschriften. TIME, Forbes, Newsweek. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie zeigten den gleichen Mann.
Den, der nun vor Gryf und seinen Begleitern stand und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
»Miss Moffat, welche Freude!« Menderbit war klein, maß maximal 1,40 Meter, und hatte kein einziges Haar auf dem Kopf, nicht einmal Augenbrauen. Was ihm an Größe fehlte, glich er durch Breite wieder aus: Unter seinem maßgeschneiderten und schneeweißen Anzug wogten die Specklagen sichtlich, wann immer er sich bewegte. »Ich hatte so gehofft, Ihnen einmal zu begegnen.«
Jenny sah den Wicht an, als stamme er vom Mars. »Und lassen Sie alle Ihre Gesprächspartner erst fesseln und gegen ihren Willen herbringen?«, blaffte sie ihn an.
Menderbit ignorierte die Bemerkung einfach. »Sie haben sicherlich viele Fragen. Nun, keine Scheu: Wenn Sie es soweit geschafft haben, will auch ich mich nicht lumpen lassen. Immerhin, und das gebe ich unumwunden zu, erfüllt mich meine Arbeit mit Stolz. Lieben wir Kreativen es nicht, die Früchte unserer Bemühungen präsentieren zu dürfen?« Er zwinkerte verschwörerisch, als seien er und Jenny Mitglieder eines geheimen Clubs und gewissermaßen gleichgestellt. Wissende. In seinen Augen waren sie das vielleicht sogar.
»Okay«, nahm Andy das Angebot an. »Fangen wir mit dem Dokument an, Roslins mysteriöses Verkaufsobjekt. Worum handelt es sich dabei? Welcher Fetzen Papier ist so wichtig, dass er zwei Menschenleben wert ist?«
Ihr kleinwüchsiger Gastgeber strahlte. Seine himmelblauen Augen wurden groß. »Na, der Schaghen-Brief, Sergeant«, antwortete er mit einem Blick auf Andys Rangabzeichen. »Ich dachte, dahinter wären Sie längst gekommen. Unser geschätzter Bürgermeister besaß etwas, das rechtmäßig mein Eigentum sein sollte. Und er rückte es nicht raus.«
»Ihnen?« Jenny runzelte die Stirn. Gryf sah, dass die Kabelbinden ihr ins Fleisch schnitten. Dünne Blutfäden liefen über ihre Handgelenke. »Mein Wissen über New Yorker Stadtgeschichte mag begrenzt sein, aber gilt der Schaghen-Brief nicht als verschollen? Und sollte er, wenn überhaupt, nicht den Nachfahren der West India Company zustehen?«
»Meine liebe Miss Moffat!« Menderbit gluckste vor Vergnügen. »Das tut er doch. Gott allein mag wissen, auf welchen halbseidenen Wegen Roslin in seinen Besitz gelangt ist. Die zwielichtige Vergangenheit des Bürgermeisters ist denen, die wirklich über das Who is Who in New York Bescheid wissen, wohlvertraut. Fakt ist jedenfalls, dass er den Brief bekam. Und ihn für sich behalten wollte. Nun, er gehört aber mir. Und wenn er schon auftaucht, dann sollte er auch den Weg zu seinem rechtmäßigen Besitzer finden.«
»Der rechtmäßige Besitzer ist Peter Minuit«, widersprach Andy. »Besser gesagt dessen Nachfahren.«
Menderbit breitete die Arme aus, als wolle er den gesamten Raum umarmen. »Ta-daaa!«
Nun war es an Gryf, die Stirn zu runzeln. »Menderbit… Minuit… Wollen Sie etwa sagen…«
»Direkter Nachfahre des Begründers unserer schönen, alten Stadt«, sagte der Kahlkopf und verbeugte sich theatralisch. »Zu Ihren Diensten, Sir.«
***
Andy schüttelte den Kopf. »Okay. Angenommen, das kaufen wir Ihnen ab. Der Schaghen-Brief ist ein historisches Dokument von unschätzbarem Wert. Es… es gehört zum Fundament dieser gesamten Nation!«
»Ich sehe, wir sind ganz einer Meinung«, sagte Menderbit lächelnd. »Da verstehen Sie sicher, dass seine Beschaffung einen gewissen, nun, Aufwand
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