0944 - Blutgespenster
Blätter hingen noch an dem Stoff.
»Ich, ich kenne dich gar nicht!« flüsterte Lucy. »Du bist nicht meine Tante.«
»Doch, Kleine, das bin ich.« Lange Finger wühlten das blonde Haar durch. »Ich heiße auch Lucy Tarlington, und ich habe hier in der Nähe gewohnt. Man hat mich nicht vergessen, man hat immer über mich erzählt, oder kennst du die Geschichte von der blutigen Lucy nicht?«
Das Kind wich zurück. Es nickte. Es fror. Es hatte plötzlich große Angst. Natürlich erzählten sich die besonders Mutigen manchmal die Geschichte von der blutigen Lucy. Die Erwachsenen taten es ja auch, aber die Kinder nur im Bett, wenn die Taschenlampen brannten und sie bei irgendwelchen Freunden übernachteten. Dann wurden vor dem Schlafengehen Schauergeschichten erzählt, und die blutige Lucy wurde immer wieder anders beschrieben.
Auch so…
In ihrem roten Kleid…
Die Lippen des, Mädchens zuckten. Lucy wußte nicht, was sie tun sollte. Die Frau kam ihr so groß vor, aber das alles konnte nicht stimmen. Sie dachte daran, daß ihre Mutter immer wieder davon gesprochen hatte. Lucy gab es nicht, sie war weg. Sie hatte vor langer, langer Zeit gelebt, sie mußte längst tot sein.
Diese Tatsache gab dem Kind Sicherheit. Plötzlich konnte Lucy auch wieder sprechen. »Nein!« flüsterte sie. »Nein, das stimmt alles nicht, was du mir gesagt hast. Die Lucy ist nur eine Geschichte. Ist nur ein Märchen, eine Sage, das hat mir alles meine Mutter erzählt. Sie hat recht, ja, sie hat recht, nicht du!«
Das Mädchen streckte den rechten Arm und auch den Zeigefinger vor, um ihren Worten so mehr Nachdruck zu verleihen. Die Frau sollte ruhig merken, daß sie an so etwas nicht glaubte. Das konnte alles nicht stimmen. Es gab diese blutige Lucy nur im Schauermärchen.
Auch wollte sie zu den anderen Kindern zurück, und bevor sich die Frau versah, wirbelte das Kind auf der Stelle herum und rannte zur Tür, die in den Waschraum führte. Ihn mußte sie durchqueren.
Über einen Gang erreichte sie die Tür. Hoffentlich warteten die anderen noch und waren nicht schon vorgelaufen, weil es zu kalt war, um draußen lange rumzustehen.
Die Laterne hatte Lucy vergessen. Ihr Anorak stand offen. Die beiden Hälften wehrten durch den Schwung hinter ihr her, als sie die Tür zum Waschraum aufdrückte, auch hineinlaufen konnte, aber der harte Schritt stammte nicht von ihr, sondern von der Frau, die Lucy auf den Fersen geblieben war.
Sie war schnell.
Und wieder sah Lucy sie nicht im Spiegel, aber eine Hand kriegte den rechten Schoß der dicken Jacke zu fassen, und der folgende heftige Ruck schleuderte das Mädchen herum, das beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
Lucy fiel, aber sie landete nicht am Boden. Durch den Zug torkelte sie förmlich hinein in die auffangbereiten Arme der fremden Frau, die bestimmt nicht ihre Tante war.
Die Blutsaugerin hielt ihr Opfer eisern fest. Sie zerrte die Kleine zu sich heran, und für einen Augenblick verlor sie die Beherrschung und riß ihren Mund weit auf.
Lucy, die hatte schreien wollen, schaute direkt in das Maul hinein wie in einen finsteren Schlauch, aus dem ihr eine Luft entgegenschlug, wie sie eine niemals zuvor gerochen hatte.
Aber sie sah auch die Zähne.
Und sie erkannte die kleinen Blutkrusten an den Seiten der Lippen. Lucy kam mit dem Anblick nicht zurecht, sie kannte zwar die Geschichte von der blutigen Lucy, aber was genau ein Vampir war, das hatte man ihr nicht erzählt. So war bei ihr das Staunen über die beiden großen, spitzen Zähne stärker als die Angst.
Es hinderte sie auch daran, etwas zu unternehmen. Sie konnte sich nicht aus diesem Griff befreien, sie war einfach starr geworden und erlebte die nächsten Sekunden viel, viel länger, als sollte sie besonders darunter leiden.
Dank ihrer Kräfte brauchte Lucy nur eine Hand, um ihre junge Namensvetterin festzuhalten. Die andere hob sie an, und das Kind sah sie plötzlich groß in seinem Gesichtsfeld erscheinen.
Ob Zufall oder nicht, die Blutfrau hatte genau den richtigen Zeitpunkt abgewartet, denn das Kind hatte sich erholt. Es wollte zu einem Alarmschrei ansetzten, da drückte die andere Lucy ihre schmutzige Hand gegen die Lippen der Kleinen.
Der Schrei verstummte schon im Ansatz. Nicht mal ein Gurgeln drang aus der Kehle, und das verzerrte Gesicht der blutgierigen Vampirin schwebte wie ein Ballon über dem des Kindes.
Die kleine Lucy sah die Augen jetzt genauer und überdeutlich. Sie waren zwei runde, böse Kugeln, in denen
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