0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
Augenblick erkennen. Es war blaß, und die Haut sah aus, als lägen auf ihr bläuliche Schatten.
Der Mann baute sich neben dem Schrank auf. Er schaute die Frau an und fragte: »Wo ist er?«
Ellen schwieg.
»Sie will nicht reden!« Der Frager lachte.
Der Typ mit der Waffe griff mit der freien Hand in Ellens kurzes Haar. Obwohl er einen Handschuh trug, bekam er einige Strähnen zu fassen und zerrte so hart daran, daß der Frau das Wasser in die Augen trat und sie vor Schmerzen stöhnte. Ihren Kopf drückte er nach hinten, und sein Gesicht schwebte plötzlich wie ein bösartiger Schatten über ihr. »Mein Freund hat dich was gefragt, Ellen. Wo ist er?«
»Wer…?« quälte sie hervor.
Der Waffenträger lachte. »Idiot.« Damit meinte er seinen Kumpan.
»Du hättest ihr sagen sollen, daß wir den Spiegel meinen.«
»Schon gut. Ich weiß.«
»Also?« fragte der Waffenträger. Er hatte Ellens Haar wieder losgelassen, aber die Mündung nicht von ihrem Kopf genommen. »Wo finden wir den Spiegel?«
Ellen war zur Seite gesunken. Sie wollte nicht weinen, aber sie konnte nicht anders. »Nicht – da…«
»Wie?«
»Er ist nicht mehr hier!«
Damit hatten die beiden Männer nicht gerechnet. Fast gleichzeitig gaben sie den gleichen Laut ab. Es klang überrascht und wütend zugleich.
»Die will uns verarschen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte der Mann mit der Waffe.
»Der Spiegel ist wirklich nicht mehr hier«, sagte Ellen Bates stöhnend. »Der Mann hat ihn mitgenommen.«
»Welcher Mann?«
»Der mich besucht hat.«
»Wie heißt er?«
»John Sinclair.«
»Und weiter?«
»Er nahm ihn mit. Er wollte ihn untersuchen, aber er wird ihn wiederbringen.«
»Wann wird das sein?«
»Keine Ahnung. Morgen vielleicht.«
»Und er will ihn untersuchen?«
»Ja«, stieß Ellen jammernd hervor. Sie hockte gekrümmt und zur Seite geneigt im Sessel. Ihr war kalt und heiß zugleich. Diese Brutalität der beiden Männer hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. So etwas kannte sie bisher nur aus dem Fernsehen. In der Wirklichkeit war ihr so etwas noch nicht begegnet.
»Schau mal im Zimmer der Tochter nach!« befahl der Kerl mit der Waffe.
Trotz ihres jammervollen Zustands hatte Ellen Bates diesen Satz genau mitbekommen, und sie folgerte sehr richtig, daß die beiden genau Bescheid gewußt hatten. Sie kannten sich in ihrer Wohnung aus. Sie mußten jemanden haben, der Bescheid wußte, und plötzlich krampfte sich bei Ellen der Magen zusammen, denn dafür gab es eigentlich nur eine richtige Lösung.
Der zweite hatte sich in Marions Zimmer umgesehen. »Er ist wirklich nicht da. Ich habe aber gesehen, wo er gehangen hat. Man kann den hellen Fleck an der Wand gut erkennen.«
»Hm, das ist natürlich nicht gut. Und du sagst, daß der Spiegel mitgenommen wurde?«
»So ist es.«
»Von diesem Sinclair. So hieß der Knabe doch?«
Ellen hustete, sie konnte auch wieder nicken, weil die Mündung nicht mehr ihren Kopf berührte. Der Typ stand jetzt vor ihr und zielte aus einer gewissen Entfernung gegen ihr Gesicht. Aber die Bedrohung war nach wie vor da.
»Was hat er mit dem Spiegel zu schaffen? Warum ist er überhaupt gekommen?«
»Ich wollte mit ihm sprechen.«
»Über was?«
»Über meine Tochter.«
»Schön, dann sind wir bei ihr. Ich würde gern fragen, wo sie sich aufhält.«
»Sie ist weg.«
Der Mann trat Ellen gegen das Schienbein. Sie schrie jammernd auf und preßte ihre Hände gegen die getroffene Stelle. »Wir haben selbst Augen im Kopf und konnten sehen, daß sich deine Tochter nicht mehr hier in der Wohnung befindet. Wo ist sie hingegangen?«
Die Antwort wäre einfach und doch so kompliziert gewesen.
Plötzlich spürte die Frau einen gewissen Widerstand in sich hochsteigen. Sie wollte die Wahrheit nicht sagen, und sie konnte sich auch nicht vorstellen, daß man sie ihr abnahm. Urplötzlich kam ihr – wie sie glaubte – die rettende Idee.
»Sie ist mit ihm gegangen. Mit Sinclair. Zusammen mit dem Spiegel hat er sie mitgenommen.« Ellen rechnete mit einem weiteren Tritt oder Schlag. Der Kerl vor ihr hielt sich zurück. Er tat gar nichts.
Er gab nicht mal eine Antwort.
Sein Kumpan fragte nur: »Ob das stimmt?«
»Kann sein.«
»Wir haben aber nichts gesehen.«
»Wann ist dieser Sinclair denn gegangen?« wollte der Mann mit der Waffe wissen.
»Er ist noch nicht lange weg. Vor einigen Minuten. Wirklich, ich lüge Sie nicht an.«
»Stimmt sogar. Wir haben einen Typen über die Straße zu seinem Wagen
Weitere Kostenlose Bücher