0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
gehen sehen. Aber wir haben nicht erkannt, ob er aus diesem Haus hier gekommen ist.«
»Das ist er. Sie müssen mir glauben.«
Der Kerl nickte. Ellen sah aber auch, wie er hinterlistig und irgendwie auch teuflisch lächelte. »Das nehme ich dir sogar ab. Den Mann haben wir gesehen…«
»Er hatte auch den Spiegel«, sagte Ellen Bates schnell.
»Darum geht es mir nicht. Wir haben den Mann zwar gesehen, aber nicht deine Tochter.«
»Wieso?«
»Denk nach. Deine Tochter war nicht bei ihm. Sie ist doch sicherlich an seiner Seite geblieben. Wir hätten beide sehen müssen, als sie die Straße überquerten, aber das war nicht der Fall. Wir sahen nur ihn, und Marion war nicht bei ihm. Kannst du uns das erklären, Ellen Bates? – Aber rasch, und such dir wirklich eine gute Erklärung aus, denn anlügen lassen wir uns nicht.«
Jetzt stecke ich in der Falle! schoß es Ellen durch den Kopf. Jetzt stecke ich fest, verdammt, und ich weiß nicht, wie ich da wieder herauskommen soll.
»Nun…?«
»Marion ist klein für ihr Alter. Man kann sie wirklich leicht übersehen und…«
Der zweite Kerl lachte nur. Und in sein Lachen hinein sprach der erste. »Wo ist deine Tochter wirklich?«
»Das – das…«
»Sag nicht, sie ist mit ihm gegangen!«
Ellen Bates hatte den Punkt erreicht, wo ihr alles egal war. Sie würde diesem Verbrecher nicht die Wahrheit sagen, auch wenn er sie mit der Waffe bedrohte. »John Sinclair hat sie mitgenommen!« erklärte sie. »Marion und den Spiegel!«
Der Fremde schaute sie an. Ellen sah nur seine Augen, die nach ihrem Dafürhalten farblos waren. Sie waren einfach nur kalt und widerlich, wie zwei kleine Tümpel, die in strenger Kälte eine dünne Eisschicht auf der Oberfläche bekommen hatten.
»Du bleibst dabei?«
»Weil es stimmt.«
Ellen sah, wie der Mann schluckte. Und zugleich bekamen seine Augen einen gewissen Ausdruck. Sie konnte ihn nicht genau definieren, aber sie wußte, daß er nicht normal, sondern verdammt gefährlich war. So wie sie sahen Killeraugen aus. Augen ohne Gefühl, ohne…
»Das war’s dann wohl«, sagte der Mann.
»Wie – was…?«
Er schoß.
Ellen Bates hörte den dumpfen Abschuß nicht. Der Knall wurde durch den Schalldämpfer zurückgehalten. Sie vernahm nur ein kurzes Sirren, als befände sich eine Biene in ihrer unmittelbaren Nähe.
Dann traf sie die Kugel. Ellen Bates glaubte, daß ihr jemand einen nassen und schweren Lappen gegen die Stirn gedrückt hatte, aber es war kein Lappen, er war auch nicht naß. Es war der Tod, der blitzartig zugeschlagen hatte!
***
Ich hatte den Kerl draußen liegen gelassen und das Haus betreten.
Im dunklen Flur blieb ich stehen. In der rechten Hand hielt ich meine Beretta, und ich dachte nach, ob ich mich richtig verhalten hatte.
Ich hätte meine Kollegen anrufen können, aber ich schleppte nicht immer ein Handy mit mir herum. Und wieder zum Wagen zurückzulaufen, um von dort aus zu telefonieren, hätte mich einfach zu viel Zeit gekostet, deshalb mußte ich es auf eigene Faust wagen.
Der Hausflur war finster.
Völlig normal.
Es war ruhig.
Das war auch normal.
Ich hatte mich nicht getraut, das Flurlicht einzuschalten und würde auch weiterhin in der Dunkelheit bleiben, denn den Weg zur Tür kannte ich. Auf Zehenspitzen durchquerte ich den Flur. Ich wartete darauf, Geräusche aus Ellens Wohnung zu hören, aber ich wartete vergeblich. Hinter der Tür blieb es still, und ich hörte auch nichts, als ich mein Ohr dagegen legte, um zu lauschen.
Das konnte ein gutes, aber auch ein schlechtes Zeichen sein. Ich tippte eher auf das schlechte, weil ich einfach nicht daran glauben wollte, daß Ellen Bates um diese Zeit Besuch erwartete.
Was tun?
Ich hatte keinen Schlüssel.
Klingeln?
Leider wußte ich nicht, was in der Wohnung ablief. Durch das Geräusch konnte ich möglicherweise eine böse Kettenreaktion auslösen, die dann in Angst und Schrecken mündete. Auf einem anderen Weg die Wohnung betreten, klappte auch nicht.
Eine dritte Alternative mußte her.
Es gibt Situationen, da wurde ich verdammt kreativ. Und ich dachte daran, daß dieser Typ noch vor dem Haus lag. Bewußtlos oder angeschlagen, so genau wußte ich das nicht. Aber seine Waffe steckte in meiner Jackentasche.
Vielleicht konnte er mir unbewußt helfen. Der Gedanke war kaum in mir hochgeschossen, da setzt ich ihn auch schon in die Tat um.
Nur mußte ich schnell und lautlos sein, und auch die Sterne des Schicksals mußten günstig stehen.
Auf leisen
Weitere Kostenlose Bücher