0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
drückte.
Ich hätte mir jetzt das Glatteis zurückgewünscht. Es war leider nicht mehr da, auch wenn der Boden wieder gefroren war. Aber er war trocken, die Reifen fanden Halt, drehten nicht durch, und ich sah nur die Heckleuchten des Fahrzeugs.
Mittlerweile stand ich auf der Straße, die Waffe im Anschlag. Auf einen Zuschauer hätte ich wie ein Actionheld gewirkt, nur fühlte ich mich nicht als Held.
Es brachte nichts, wenn ich dem davonfahrenden Wagen nachschoß. Erreichen würde ich nichts, nur Kugeln verschwenden.
Ich ließ die Arme wieder sinken, drehte mich nach rechts und ging zurück in das Haus.
Wieder einmal schritt ich durch den Flur, und das Gefühl in mir verdichtete sich. Schon jetzt füllten mich der Schrecken und die Furcht vor einer schlimmen Entdeckung vom Kopf bis zu den Zehenspitzen aus. Ich erfuhr am eigenen Leib, daß auch ein Geisterjäger zitterte, und ich wußte, wie knapp ich dem Tod entwischt war.
Die Wohnungstür war nicht wieder ins Schloß gefallen. Sie stand noch offen. Ich trat in den schwachen Schein hinein, der mich plötzlich an ein Totenlicht erinnerte, das jemand in der Leichenhalle aufgestellt hatte.
Es war so still in der Wohnung. So verdammt und unnatürlich still. Die einzigen Geräusche stammten von mir. Für einen Moment zögerte ich, bevor ich das Wohnzimmer betrat. Eis schien in kleinen Körnern lautlos über meinen Rücken zu rollen.
Auf der Schwelle stoppte ich abermals meine Schritte. Den Kopf drehte ich nach links. Dort stand der Sessel. In ihm hockte, saß oder lag die Gestalt.
Es war Ellen Bates.
Obwohl sie aussah, als wäre sie eingeschlafen, glaubte ich nicht daran. Ich konnte nur hoffen, daß sie bewußtlos und nicht tot war.
Zitternd und auf Zehenspitzen näherte ich mich dem Ziel. Ich sah zuerst das bleiche Gesicht, und es fiel mir auch der dunkle Punkt auf ihrer Stirn auf.
Ein Loch.
Loch mit rotem Rand!
Ich verkrampfte, dennoch beugte ich mich vor. Dann sah ich den leeren Ausdruck in den Augen.
So sah nur jemand aus, der nicht mehr lebte.
Ich kontrollierte es trotzdem. Der Puls war nicht festzustellen.
Ellen Bates, diese sympathische Frau, die sich an mich um Hilfe gewandt hatte, war eiskalt erschossen worden…
***
Daß ich in einem zweiten Sessel saß, merkte ich schon, aber ich wußte nicht, wie ich dort hingekommen war. Die letzten Sekunden waren vergangen wie im Traum. Ich war nicht mehr ich selbst gewesen. Ich hatte alles automatisch gemacht, ohne nachdenken zu können und auch zu wollen. Es hatte einfach nicht mehr geklappt. Irgend etwas war in meinem Innern ausgeklinkt. Nur konnte ich nicht für Stunden auf dem Platz sitzen bleiben. Allmählich kam ich wieder zu mir. Sehr bewußt schaute ich jetzt nach vorn und schaute direkt auf die Tote.
Im Flur lag noch ein Toter, das fiel mir jetzt ein. Ich ging zu ihm und untersuchte ihn im Licht meiner Taschenlampe. Der Schein huschte über ein Gesicht hinweg, dessen Haut in der Kälte blau geworden war. Auch hier zuckte kein Auge, als ich hineinleuchtete.
Drei Kugeln waren zumindest in seinen Körper geschlagen. Ob er noch von weiteren getroffen worden war, entdeckte ich nicht. Er lag auf dem Rücken, und ich wollte ihn nicht noch erst umdrehen.
Ich ließ den Mann dort liegen. Zwar hatte ich ihn kurz durchsucht, aber keinen Ausweis gefunden, nur einige Geldscheine, die in seiner rechten Hosentasche steckten.
Eine Fahndung nach dem Lieferwagen anzuleiern, lohnte sich nicht. Ich hatte nicht mal die Automarke erkennen können, geschweige denn das Nummernschild.
Wieder zurück in Ellens Wohnung griff ich zum Telefon. Den Hörer faßte ich mit dem Taschentuch an, um keine Spuren zu verwischen. Ich informierte und alarmierte die Kollegen, die nicht eben begeistert waren, um diese Zeit gestört zu werden. Hinzu kam, daß sie sich noch mit zwei Leichen beschäftigen mußten.
Wortlos legte ich nach meiner Meldung auf. Mir war übel geworden. Ich griff zur Whiskyflasche und nahm einen Schluck. Das Zeug räumte zwar im Magen auf, aber viel besser ging es mir nicht, denn die Eindrücke und die Erinnerungen konnte es nicht vertreiben. Erst recht nicht die Vorwürfe, die ich mir selbst machte.
Ellen Bates war tot. Ich hatte sie zwar noch retten wollen, aber ich war um die berühmte Minute zu spät gekommen. Sonst hätte alles anders ausgesehen.
Sie war tot, ihre Tochter verschwunden, der Spiegel lag bei mir im Wagen.
Trotz der quälenden Selbstvorwürfe versuchte ich, Logik in meine Gedankenwelt zu
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