0952 - Nacht über New Amsterdam
hatte die Maße eines Bären. Sein Gesicht war rot und kräftig, was auf Gesundheit, aber auch regelmäßigen Alkoholgenuss schließen ließ. Das Auffälligste war jedoch, dass er inmitten des Chaos, das die Szenerie prägte, seelenruhig an einer selbst gedrehten Zigarette paffte.
»Ich garantiere Ihnen nämlich eines, Officers«, fuhr der, der sich als Larry vorgestellt hatte, fort. »Was in der Tavern wütet, übersteigt definitiv die Grenzen dessen, was Sie als Realität zu empfinden gelernt haben!«
Andy sah ihn an, sah zu Sanders. Skepsis machte sich in ihm breit. Einerseits wollte er dem eigenartigen Blondschopf Glauben schenken, andererseits hatten die jüngsten Ereignisse ganz klar gezeigt, dass ein reales - wenngleich noch höchst undurchschaubares - Verbrechen hinter all den rätselhaften Vorfällen stand. Vermutlich war auch Larry nur der sensationslüsternen Presse auf den Leim gegangen.
Aber das glaubst du selbst nicht, oder? Irgendwas ist mit diesem, Kerl.
Andy wollte gerade den Mund öffnen, um diese Einschätzung in Worte zu kleiden, als ihn ein ohrenbetäubender Lärm zusammenzucken ließ. Instinktiv griff er zur Waffe, wirbelte auf dem Absatz herum…
... und keuchte vor Verblüffung.
Eine Frau in piekfeinem Hosenanzug war durch eines der Fenster des Restaurants gestürzt und lag nun, umgeben von einer wahren Flut an Scherben, auf dem Hofstreifen vor dem Haus. Und im Fenster selbst stand der Mann, der sie ganz offensichtlich hinausgeworfen hatte.
Er trug nichts außer einem dreckigen Kittel am Leib, wie man ihn den Körpern der in der Gerichtsmedizin lagernden Verstorbenen überzog. Sein Gesicht war eine Fratze des Hasses, seine Augen schwarze Inseln in einem leichenblassen Meer. Unter seinem wirren Haar lugten Ohren hervor, aus denen Würmer und Insekten hervorquollen.
Er war ein Monster geworden. Doch Andy erkannte ihn sofort.
Das war Barry Champlain.
***
Sirenen in der Dunkelheit. Schüsse, irgendwo jenseits des Dickichts. Und ein Mann, der durch die Schwärze eilte, dem Ungewissen entgegen.
Andys Herz schlug ihm bis zum Hals. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte er, jedes Detail seiner Umgebung aufzunehmen, doch es war alles so furchtbar dunkel. Hieß es nicht, in der Nacht würden die anderen Sinne intensiviert?
Wollen wir's hoffen , dachte er und umfasste den Griff der Glock 19 in seiner Rechten fester. Die Dienstwaffe und das Funkmikro an seiner Schulter waren das einzige, was ihn noch mit der Wirklichkeit verband. Was muss ich auch hinterher jagen, ich Idiot? Als gäbe es keine besseren Methoden, als allein in den Central Park zu hechten.
Champlain - und der Einfachheit halber war Andy bereit, diese Bezeichnung bis auf Weiteres beizubehalten - war in das Grün jenseits der Tavern geflohen, sowie die Polizisten sich ihm genähert hatten. Andy, der seinem Fluchtweg am nächsten stand, hatte nicht lang gezögert, seine Waffe aus dem Halter gezogen und war ihm gefolgt.
Die warnenden Rufe dieses Larrys hatte er ignoriert. Das hier war ein Polizeieinsatz. Da hörte man nicht auf Passanten, wenn die Zeit drängte und die Bevölkerung in Gefahr war.
Abendkälte hatte Einzug gehalten und den Großteil der New Yorker ins Innere der Häuser getrieben. Der Central Park war erstaunlich leer. Die Schlagzeilen und TV-Meldungen hatten ihren Teil dazu getan, die Menschen zu verunsichern. Es schien, als wäre nach Einbruch der Dunkelheit nur noch auf den Beinen, wer unbedingt musste. Die Bewohner der Stadt, die niemals schlief, hatten sich hinter verschlossene Türen und Fenster begeben, bis die Zombie-Geschichte ein für alle Mal geklärt war.
Und momentan sah es wieder so aus, als hätten sie damit genau das Richtige getan.
Champlain! Andy fasste es nicht. Der Mann war doch so tot, wie man nur sein konnte. Er selbst hatte gesehen, was dieser Brognosian mit ihm angestellt hatte. Handtellergroße Wunden, gebrochene Knochen, ein verdrehter Hals… WNYCs Star der Radionacht durfte nicht mehr leben! Das war völlig unmöglich!
Und doch hatte Andy ihn gesehen.
Ganz dicht war er an dem jungen Sergeant vorbei gerannt, erst vor wenigen Minuten. Und es hatte sich um Champlain gehandelt. Kein Zweifel. Das war keine Maske!
Oder?
»Sipowicz, wo zum Teufel stecken Sie?«
Andy zuckte zusammen, als die Stimme des Lieutenants aus dem Funkgerät plärrte. »Kurz hinter dem West Drive, Sir«, antwortete er. »Nähere mich dem Le Pain Quotidien . Bisher keine Spur von unserem Zielobjekt.« Bei der
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