096 - Der grüne Leichnam
geschlossen. Ich drückte auf die Klingel und ließ den Finger eine halbe Minute auf dem Knopf; doch Mansfield öffnete nicht.
Dann hörte ich Schritte, die aber sicherlich nicht von Mansfield stammten. Die Sicherheitskette wurde zurückgezogen und die Tür geöffnet. Coco stand vor mir.
„Wir sind zu spät gekommen", sagte sie. „Das Schlafzimmerfenster stand offen. Ich stieg hinein. Mansfield liegt im Bett und bewegt sich nicht."
„Verdammt!" sagte ich leise.
Ich ging an Coco vorbei und betrat das Schlafzimmer. Ein süßlicher Geruch hing in dem kleinen Raum. Diesen Duft kannte ich. Ähnlich hatte es im Todesgarten der Hekate im Himalaja gerochen. „Ich kann mir denken, was geschehen ist", meinte Coco. „Mansfield sah Muriel und rief dich an. In der Zwischenzeit ging Muriel um das Haus herum, entdeckte das offene Schlafzimmerfenster und stieg ein. Wahrscheinlich hatte Mansfield gelüftet und das offene Fenster vergessen."
Wütend setzte ich mich auf das Bett und betrachtete Mansfield. Er schlief friedlich. Ich griff nach seiner Schulter und rüttelte ihn ordentlich durch, doch er erwachte nicht.
„Ich werde mal nachsehen, ob sein Körper eine Wunde aufweist", sagte ich.
Ich öffnete den Morgenrock und knöpfte die Pyjamajacke auf. Nichts war auf Mansfields Brust zu sehen. Ich zog die Jacke aus der Hose und beugte mich über seinen Bauch. Auf der Bauchdecke erblickte ich zwei winzige, rote Punkte.
Stirnrunzelnd setzte ich mich auf. „Er hat zwei kleine Einstiche im Bauch. Sieh sie dir mal an, Coco!"
Coco gehorchte. Interessiert studierte sie die zwei roten Punkte. „Sieht wie der Einstich einer Nadel aus."
„Du sagst es", brummte ich und zündete mir eine Zigarette an. „Hekate scheint eine neue Methode entwickelt zu haben, um sich ihre Opfer zu holen. Erinnere dich, wie sie im Himalajagebiet vorgegangen ist."
„Dort waren die Yetis ihre Helfer", sagte Coco nachdenklich. „Sie brachten den Opfern mit einem Messer eine kleine Wunde bei, in die sie dann die Alraunensamen legten. Danach träufelten sie eine ätzende Flüssigkeit auf die Wunde, die sich innerhalb weniger Sekunden schloß."
„Und hier haben wir es mit Nadelstichen zu tun. Ich bin ziemlich sicher, daß Mansfield Alraunensamen eingepflanzt wurde. Die Einstiche sind nicht mehr zu sehen."
„Wir müssen Mansfield zu einem Arzt bringen. Er soll die Samenkörner herausholen."
„Warten wir mal ab, bis Mansfield erwacht. Ich bin gespannt, woran er sich erinnern kann und wie er sich verhalten wird."
Coco schloß das Fenster und setzte sich auf einen Stuhl. Ich gab ihr eine Zigarette.
„Ich frage mich, was Hekate bezweckt", sagte Coco. „Weshalb hat sie so lange gewartet?"
Ein eisiger Hauch strich über meinen Nacken, und ich wandte den Kopf um. Diesen Hauch hatte ich kurz nach meiner Ankunft in London schon mal gespürt.
„Jemand beobachtet uns", sagte Coco und stand auf.
Sie hob die Hände und murmelte eine Beschwörung. Der eisige Hauch verschwand.
„Hekate", sagte ich leise. „Sie kann jederzeit mit ihren Opfern in Verbindung treten. Sie weiß, daß wir Mansfield gefunden haben."
In diesem Augenblick bewegte sich Mansfield. Er stöhnte leise und wälzte sich auf die Seite. „Sobald er wach ist, versuchst du ihn zu hypnotisieren, Coco."
Sie nickte.
Mansfield setzte sich auf und starrte mich und Coco verständnislos an.
„Wie kommst du hierher, Dorian?" fragte er verwundert.
„Erinnerst du dich nicht mehr, George? Du hast mich angerufen?"
„Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Was wollte ich von dir?"
„Muriel Baine besuchte dich."
„Unsinn!" Mansfield lachte und stand auf.
Coco stellte sich ihm entgegen und starrte tief in seine Augen. Ihre Hände bewegten sich vor seinem Gesicht. In der rechten Hand hielt sie eine gnostische Gemme.
Mansfield sah Coco kopfschüttelnd an. „Was haben Sie mit der Gemme vor, Coco? Weshalb fuchteln sie damit vor meinem Gesicht herum?"
Coco gab den Versuch auf. Mansfield war gegen Hypnose immun. Sie steckte die Gemme wieder ein und warf mir einen bedauernden Blick zu.
„Muriel war hier, George", sagte ich. „Sie hat dir Alraunensamen in den Bauch eingepflanzt." Mansfield lachte wieder. „Deine Fantasie geht mit dir durch, Dorian. Muriel war nicht hier. Daran müßte ich mich doch erinnern können, oder?"
Es war hoffnungslos. Uns blieb keine Wahl: wir mußten Mansfield möglichst rasch zu einem Arzt bringen, der ihm die Samenkörner aus dem Körper holte, bevor sie
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