0968 - Die Greise von Eden
heran.
Nele sah, wie die Handschuhe der beiden Männer sich in gleißendem Licht aufzulösen schienen. Das Licht, das durch das Leder brach und sich davon offenbar nicht länger eindämmen ließ, war so grell, dass Nele fürchtete, es müsse den Jungen, der davon berührt wurde, verbrennen.
Aber das passierte nicht. Stattdessen leuchteten nun auch die Hände des Kindes auf, sie waren ebenfalls behandschuht, wie Nele erst jetzt bemerkte. Blitze zuckten zwischen den Händen der Erwachsenen und dem Jungen hin und her.
Für eine Weile sah es so aus, als zeige sich das schattenhafte Ungetüm in der Wand davon beeindruckt. Die Arme, die Wafas Sohn - Nele ging davon aus, dass es sich um diesen handelte - von Vater und Onkel wegschleiften, gerieten ins Stocken. Für einen Moment sah es so aus, als könnte die Kraft, die dem seltsamen Licht innewohnte, das den Händen der Salehs entwich, den Gegner zur Aufgabe bewegen.
Das Geschrei des Jungen verstummte, als hätte man ihm die Kehle durchgeschnitten.
Nele, die mit Hogarth das Geschehen wie versteinert verfolgte, blickte in das Gesicht des Kindes, das sich kurz entspannte, dann ausdruckslos wurde. Die schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Nur die Augen des Jungen verrieten, dass er noch lebte. Und dann bewegte er seine Kiefer, formulierte Worte mit fremder Zunge und abseitig tiefer Stimme - Worte, die nicht nur Nele fast das Blut zum Gerinnen brachte.
»Ihr - kennt - den - Preis!« , brandete es allen entgegen, die sich innerhalb des Raumes aufhielten. »Gebt - mir - was - mein - ist - und - ewig - mein - sein - muss!« Die Stille nach dem Aufdröhnen der düsteren Stimme wirkte wie ein betäubendes Vakuum, das die Identität aller Anwesenden in sich zu saugen drohte.
Nele mobilisierte ihren geistigen Widerstand. Hogarth ging neben ihr in die Knie. Bayan und Wafa stemmten sich noch verbissener gegen die scheinbare Pattsituation.
»Lass meinen Sohn los! Gib ihn frei!«, fauchte Wafa mit überschlagender Stimme.
Eine Art Gelächter hallte durch den weiten Raum. Sphärenhaft, unwirklich wie die ganze Erscheinung, die aus dem Gemäuer heraus an Wafas Sohn zerrte. Dem Gelächter folgte die Fortsetzung des Zugs, der das Kind und beide Männer, die es festzuhalten versuchten, die letzten zwei Meter bis zur Wand schleiften.
Nele überwand ihre Starre.
Die Szene war unmissverständlich - eine dämonische Kreatur versuchte ein Kind zu stehlen! Das dritte Saleh-Kind in Folge! Und obwohl die Macht, die das Ungetüm im Stein wie eine unüberwindliche Mauer umgab, selbst die Luft um Nele zu verpesten und zu verändern schien, eilte die uralte Frau auf die Streitenden zu.
Sie handelte instinktiv. Da war kein Plan. Da war nur unbedingter Wille, Unrecht zu verhindern, das sich gegen ein Kind richtete.
Als sie den Ort des Kampfes erreichte, berührte das Gesicht des Jungen schon den Putz der Wand.
»Lasst los!«, zischte Nele den Saleh-Brüdern zu, nachdem sich ihre eigenen Hände in den Stoff der Kleidung des Jungen gegraben hatten. » Jetzt! «
Nele war überrascht, dass sie augenblicklich Folge leisteten.
Aber wahrscheinlich hatten sie endgültig eingesehen, dass ihre sonnenhell strahlenden Hände letztlich doch gegen diesen Gegner scheitern mussten. Sie lösten ihre unter all dem Licht unsichtbar gewordenen Finger von Wafas Sohn. Im selben Moment ging Nele in den Modus, von dem sie sich Rettung erhoffte. Rettung für das Kind. Rettung für sich selbst.
Aber anstatt den Jungen, den sie gedanklich in ihren Schutz einschloss, den Fängen des geflügelten Schatten zu entreißen…
... wurde sie mit mörderischer Wucht von etwas getroffen, das sich nicht mit dem Schild, hinter den sie sich zurückgezogen hatte, vertrug. Überhaupt nicht vertrug.
Nele hatte das Gefühl, in ihre Atome zerlegt zu werden. Das Kind zerstob unter ihren Händen.
Die Wut ihres Widersachers schleuderte sie quer durch den Raum. Nacht senkte sich über ihren Geist.
Aber das Entsetzen über das, was sie eine Mikrosekunde vor dem Erlöschen ihres Bewusstseins gespürt hatte, folgte ihr selbst in die tiefe Ohnmacht.
***
Sie kam zu sich.
»Dem Himmel sei Dank!«
Paul Hogarth, der an einem Fenster in der Nähe des Bettes gestanden hatte, kam zu ihr geeilt. Er wirkte überhaupt nicht kränklich - ganz anders, als Nele ihn in Erinnerung hatte.
Oder waren die Ereignisse, die sich in ihrer Erinnerung niedergeschlagen hatten, gar nicht real? Hatte sie alles nur geträumt?
»Paul… Wo
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