0973 - Das verfluchte Volk
bringen, was sich gestern Abend ereignet hat.
Als die Dämmerung einsetzte, hatten wir kaum noch die Kraft, uns ein Lager zu bereiten. Wir hatten seit Tagen nichts außer ein paar Blättern und Wurzeln gegessen. Unsere Füße waren nur noch blutige Stumpen.
Vielleicht hätte Hernando nicht gerade in dieser Situation auf seinen knurrenden Magen zu sprechen kommen sollen.
Wie der Teufel persönlich schoss Paco auf den Unglücklichen zu, packte ihn am Kragen und rammte dem Schielenden sein gewaltiges Messer in den Bauch. Ungläubig starrte Hernando seinen Anführer an, blutiger Schaum lief ihm aus dem Mund, dann brach sein Blick. Mit einem schmatzenden Geräusch zog Paco die Klinge aus dem Körper. In seinen Augen funkelte der Wahnsinn, als er sich den anderen zuwandte.
»Hat sonst noch jemand was zu meckern?« Betretenes Schweigen war die Folge. »Das dachte ich mir. Dann wollen wir uns an die Arbeit machen!«
Bisher hatte ich dem unfassbaren Treiben starr vor Schreck zugesehen, doch jetzt sagte ich beklommen. »Wir haben weder Schaufeln noch Hacken. Uns fehlt das Werkzeug für ein anständiges Begräbnis.«
Paco lachte, als hätte ich den besten Witz der Welt gemacht. »Begräbnis? Aber Señor, wer redet denn von Begräbnis? Wir alle sterben vor Hunger, und da« - er deutete auf den zusammengesunkenen Leichnam - »ist totes Fleisch. Wollen Sie das wirklich verschwenden?«
Entsetzt starrte ich ihn an. »Du willst ihn essen?«
»Sollen wir hier verrecken, weil wir uns zu fein sind für dieses schöne, saftige Stück Fleisch?«
So sehr ich mich vor mir selbst ekelte, allein bei dem Gedanken, das bohrende Loch in meinem Bauch zu füllen, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich sah in die bleichen, ausgezehrten Gesichter der anderen, suchte nach Zeichen des Abscheus, der Verweigerung.
Ich fand keine.
Dann nickte ich. »Gut, machen wir es:«
Die folgenden Szenen kann ich nicht beschreiben. Ich musste mich abwenden und mehrfach übergeben, als Paco den armen Hernando mit seinem Messer fachgerecht zerlegte. Dann machte er ein großes Feuer und briet das Fleisch auf groben Spießen, die er aus herumliegenden Ästen schnitzte.
Als er sein grausiges Tun vollendet hatte, stürzten sich die Männer völlig enthemmt auf das gebratene Fleisch. Mit feistem Grinsen reichte Paco auch mir ein Stück. Ich nahm es, schloss die Augen und biss hinein.
Es war köstlich…
***
Sie verbrachten den Rest des Tages damit, das Archiv unauffällig zu observieren. Paula ging mit ihren jungen Jahren und ihrer legeren Kleidung locker als Studentin durch. Sie besorgte sich ein paar Philosophie-Bücher über die französische Postmoderne, eine große Decke und einen riesigen Becker Kaffee und machte es sich auf einer Wiese in unmittelbarer Nähe des einstöckigen Gebäudes bequem.
Zamorra und Nicole fielen als Westeuropäer zwar etwas aus dem Rahmen, doch an einem so multikulturellen Ort wie einer Universität fielen auch sie nicht weiter auf. Vermutlich würde man sie für ausländische Gastdozenten halten. Sie kauften sich in einem der Uni-Shops ein paar Mappen, die sie mit allen möglichen Papieren füllten, und unternahmen einen ausgedehnten Spaziergang, der sie rein zufällig immer wieder am Archiv vorbeiführte.
Der Bau bestand aus schlichtem weißen Beton. Die dicken Fensterläden waren allesamt geschlossen, was bei einem Gebäude, das alte Akten beherbergte, jedoch nicht weiter verwunderlich war. Der Eingang bestand aus einer schmucklosen Metalltür. Es gab keine sichtbaren Wachen, obwohl Paula bei ihren Vorab-Erkundungen aufgefallen war, dass die Nachtwächter auffällig häufig in dieser Gegend patrouillierten. Außerdem entdeckten die Dämonenjäger zahlreiche gut versteckte Kameras, die die unmittelbare Umgebung des Archivs genau im Blick behielten.
»Meine Schuhe bringen mich um«, seufzte Nicole, als sie nach dem gefühlten fünfhundertsten Rundgang erneut das Archiv erreicht hatten. Um eventuellen Beobachtern nicht aufzufallen, waren sie dem Betonbau bisher nicht sonderlich nahe gekommen. Jetzt ließen sie sich wenige Meter von dem Gebäude entfernt auf der Wiese nieder und diskutierten scheinbar eifrig über ihre Unterlagen. Von ihrer Position aus konnten sie Paula sehen, die nicht weit von ihnen scheinbar völlig vertieft in ihre Lektüre war.
Nicole zog ihre Schuhe aus und massierte ihre Füße. Ohne den einstöckigen Bau auch nur eines Blickes zu würdigen, sagte sie: »Das Artefakt ist immer noch da. Ich kann es
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