0976 - Flügel des Todes
den Dachboden geschlichen und hatte die Tür sorgfältig hinter sich abgeschlossen.
Sie wusste nicht, wie lange sie nun schon hier kauerte, doch seit der Heimkehr ihres Vaters mochten schätzungsweise zwei Stunden vergangen sein. Offenbar hatte man im Rausch schlichtweg vergessen, dass sie sich noch im Haus befand. Das Getöse im Untergeschoss war mittlerweile verstummt. Scheinbar war die wilde Horde weitergezogen. Dennoch hielt es Janine für das Klügste, wenn sie sich weiter hier oben verschanzte.
Was ist bloß mit ihnen passiert?
Die junge Französin schluchzte abermals leise auf und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. Dabei hinterließ sie eine feuchte Spur aus Tränen und Staub auf ihrer hellen Haut.
Vom Fenster aus verfolgte sie das Geschehen auf dem Dorfplatz. Irgendjemand hatte dort zentral eine stattliche Anzahl von Weinkisten postiert, über die die Betrunkenen wie Besessene herfielen. Vielleicht war André Goadec, der hiesige Weinbergpächter, dafür verantwortlich. Janine konnte es nur vermuten. Es war auch nicht wirklich wichtig.
Jetzt zählte nur, dass sie die Nacht mit heiler Haut hinter sich brachte!
Weitere Menschen näherten sich aus dem Dunkel der Seitenstraßen. Der unheimliche Mob bewegte sich langsam, aber unaufhaltsam auf die Weinkisten zu.
Wie Zombies, zuckte es Janine durch den Kopf. Denn genau daran erinnerte dieser Anblick sie. Die Menschen wirkten wie die umhertaumelnden, lebenden Leichen, die in regelmäßigen Abständen die Kinoleinwände bevölkerten.
Ein Grund mehr, ihnen nicht in die Hände zu fallen! Janine bezweifelte zwar, dass man ihr Gewalt antun würde. Allerdings würde man sie sicherlich zwingen, ebenfalls von dem mysteriösen Wein zu trinken, und darauf konnte sie beim besten Willen verzichten. Schließlich hatte sie ja mit eigenen Augen gesehen, was das Zeug mit ihrer Mutter angestellt hatte!
Ein lautes Heulen ließ Janine zusammenzucken.
Sie lugte vorsichtig wieder aus dem Dachfenster. Kollektiv rissen die Menschen auf dem Marktplatz die Arme hoch und blickten gen Himmel.
Als Janine ihren Blicken folgte, glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen.
Etwas großes Geflügeltes schwebte hoch über dem Dorf am Nachthimmel. Geisterhaftes Stöhnen wurde laut, als das Wesen mit den Schwingen schlug und sich ein Stück tiefer Richtung Erdboden sinken ließ.
Jetzt konnte Janine es genauer betrachten. So hatte sie sich als kleines Mädchen immer einen Engel vorgestellt, erinnerte sie sich, aber was sie nun hier vor sich sah, war mit Sicherheit kein himmlischer Sendbote. Um den sinnlichen Mund der geflügelten Frau spielte ein unsagbar boshafter Zug, der Janine unwillkürlich frösteln ließ.
Und dann begann der höllische Engel lauthals zu lachen.
»Betrinkt euch nur«, erklärte das unheimliche Geschöpf mit gespenstischer Heiterkeit. »Schon bald werdet ihr viel zu tun bekommen!«
Der »Engel« kicherte und wandte den Kopf. Die Augen der Geflügelten schienen aufzuleuchten, als sie das auf dem Hügel befindliche Schloss ins Visier nahm.
»Château Montagne wird fallen«, verkündete sie selbstsicher, während sie langsam wieder nach oben schwebte und schließlich am Nachthimmel verschwand.
Und so, wie die Lage aussah, hatte Janine Betancour keinen Grund, an dieser Aussage zu zweifeln.
***
»Werden Sie den Wagen nehmen?«
Zamorra verkniff sich ein Schmunzeln. Er musterte William, den treuen, selten aus der Fassung zu bringenden Butler, gut gelaunt. Sie standen gemeinsam mit Nicole in der Eingangshalle des Châteaus.
»Nein«, antwortete er dann. »Ich glaube, das Auto lassen wir wohl besser stehen.« Er zwinkerte William vertraulich zu. »Sie wissen doch, wie diese Dorffeste sind!«
Er machte eine Pause, als ihm eine Idee kam.
»Hören Sie, warum kommen Sie nicht einfach mit?«, schlug er spontan vor. Auch William hatte in den letzten Monaten genug mitgemacht. Zunächst war da der Angriff der Shi-Rin gewesen, dann der Tod seiner Arbeitgeberin Lady Patricia Saris. Als ihr Sohn Rhett darauf entschied, aus dem Château auszuziehen, entließ er den treuen Butler aus seinen Diensten, was diesem fast das Herz gebrochen hätte. Kurzerhand hatte Zamorra den guten Geist des Hauses selbst eingestellt, dennoch hatten die Ereignisse schwer an ihm genagt. Das Schloss war einsam geworden in der letzten Zeit, auch für William.
William zögerte einen Moment, doch schließlich schüttelte er traurig lächelnd den Kopf.
»Nein danke«, antwortete er stockend.
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