0984 - Griff aus dem Dunkel
Rad hockte.
Es war der einsame und manchmal unheimliche Weg, auch wenn er nicht als gefährlich eingestuft werden konnte. Von Überfällen hatten die Jungen bisher nichts gehört, und sie glaubten auch nicht daran, daß sich das an diesem Abend ändern würde.
Der Wind war kälter geworden. Wie die Fetzen eines alten Lappens schlug er stets in die Gesichter der beiden Fahrer. Zu beiden Seiten des schmalen Wegs bauschten sich die Büsche wie eine lange Mauer auf, durch die unheimliche Gestalten zu kriechen schienen, was natürlich Einbildung war und nur durch die Lichtreflexe hervorgerufen wurde, die beide Lampen produzierten.
Das Fahren strengte an. Mike ging nicht mit dem Tempo herunter. Er wollte so schnell wie möglich Gewißheit haben, als ginge er tatsächlich davon aus, daß sich Johnny auf dem kleinen Friedhof aufhielt. Das konnte Tim nicht glauben. Sie waren keine Feiglinge, aber weshalb sollte sich Johnny gerade diesen Ort der Toten als Ziel aussuchen?
Wolken trieben über den Himmel. Der Wind spielte mit den Blättern. Er riß sie nicht ab, sondern ließ sie flattern. Das leise Rascheln wurde zu einer Begleitmusik für beide Fahrer.
Mike hob kurz die rechte Hand. Ein knapper Wink, dann faßten die Finger wieder zu, und der hinter ihm fahrende Tim verstand die Geste genau. Er bremste ab, was auch Mike tat, bevor er sein Rad nach rechts lenkte, damit Tim den nötigen Platz bekam, um neben ihm herfahren zu können. Mike schaute den Freund an. Dabei grinste er. »Starke Fahrt, wie?«
»Klar. Ob Johnny auch hier ist?«
»Warum nicht? Es ist der kürzeste Weg nach Hause. Und vor einem Friedhof hat er sich noch nie gefürchtet.«
»Stimmt auch wieder.« Tim gab etwas mehr Tempo, weil er mit Mike auf einer Höhe bleiben wollte. »Glaubst du denn, daß ihm etwas passiert ist?«
»Nein - wieso?«
»Der Friedhof…«
Mike lachte scharf. »Hör doch auf damit. Außerdem hat Johnny mehr erlebt, als wir beide zusammen. Vor einem Friedhof wird der keine Angst haben. Oder denkst du, daß er sich dort versteckt hält?«
Tim hob während des Fahrens die Schultern. »Ich denke überhaupt nichts«, erklärte er.
»Ist auch besser so.«
»Da vorn ist das Licht.«
»Welches?«
»Die Lampe vom Friedhof«, sagte Tim. »Gut.«
»Was meinst du damit?«
»Es ist immer gut, wenn Licht zu sehen ist.«
Tim glaubte seinem Freund zwar kein Wort, aber er fragte auch nicht mehr nach. Außerdem hatte er das Gefühl, als wäre Mikes Gelassenheit nur gespielt. Tief in seinem Innern war ihm schon komisch zumute.
Mußte ihm einfach komisch sein, denn Johnnys Verschwinden war für sie nicht erklärbar.
Diesmal fuhr Tim vor. Er hatte zweimal heftig in die Pedalen getreten und schon einen Vorsprung herausgeholt. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, sein Rad nach links zu lenken. Es war wie von selbst geschehen, und der Scheinwerferkegel erfaßte nicht nur ihn, sondern auch einen Teil der Außenmauer, die den Friedhof abgrenzte, und huschte weiter zu dem Fahrrad.
Johnnys Rad!
Tim fluchte, drehte sich nicht um, sondern bremste auf beiden Rädern.
Er stand sehr schnell. Beinahe wäre Mike noch gegen ihn gefahren. Er wich soeben noch aus, bremste ebenfalls, kippte dabei, hielt sich aber auf den Füßen.
Die beiden Jungen standen versetzt zueinander. Was Tim erblickte, konnte Mike nicht sehen, aber dessen Motzerei erstickte Tim sofort.
»Das ist Johnnys Rad!«
Mike schwieg. Er drehte sein Rad. Der Scheinwerfer gab kein Licht mehr. »Wo denn?«
»An der Mauer.«
Mike schob sein Rad auf Tim zu. Der hatte seinen fahrbaren Untersatz bereits auf den Ständer gestellt, was Mike jetzt auch tat. Etwas verlegen hielten sich die beiden vor dem Friedhof auf. Umgeben von der Dunkelheit und dem Rauschen der Blätter, mit denen noch immer der Wind spielte, als wollte er den jenseits der Mauer liegenden Toten eine besondere Melodie bieten.
Erst als sich Mikes Augen an die Umgebung gewöhnt hatten, sah auch er das Rad. »Und was tun wir jetzt?« fragte er.
»Weiß ich auch nicht«, gab Tim flüsternd zurück.
»Warum steht das Rad da?«
Tim hob die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Red keinen Scheiß! Du weißt genau. Johnny hat es abgestellt, weil er, weil er…«
»Sag schon!«
»Der ist auf dem Friedhof!«
Tim schwieg. Das gleiche hätte er auch gedacht, nur wollte er es nicht so offen zugeben. Außerdem war ihm das mehr als komisch. Einen Grund konnte er sich nicht vorstellen. Und eine Antwort wollte er auch nicht geben. Mit leicht
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