0984 - Griff aus dem Dunkel
Darüber hatten Wir nachgedacht und spekuliert. Wir beide waren zu dem Ergebnis gekommen, daß es nur mit Bills neuem Job zusammenhängen konnte. Er war nach Haiti geflogen, um über eine Schamanin namens Imelda einen Artikel zu schreiben. Diese Frau gehörte zu den wenigen menschlichen Phänomenen, die es schafften, ihren Astralleib vom eigenen Körper zu lösen, um eben mit diesem feinstofflichen Leib durch magische Welten surfen zu können.
Ich selbst hatte die Bekanntschaft dieser Schamanin noch nicht gemacht, dafür aber hatte ich über sie in einem anderen Zeitungsartikel gelesen. Sheila war zu Hause in London geblieben. Ihr Mann befand sich viele Meilen von ihr entfernt, und trotzdem gingen wir beide davon aus, daß diese sexuelle Belästigung etwas mit Bills Besuch auf der Insel Haiti zu tun hatte. Wie es ihm ging, wußte keiner von uns. Besonders gut sicherlich nicht, sonst hätte Sheila nicht auf diese Art belästigt werden können.
Wahrscheinlich hatte diese Imelda Freund Bill unter ihre Kontrolle bekommen und aus ihm Informationen herausgepreßt, die er freiwillig niemals gegeben hätte. Deshalb also der Angriff auf Sheila.
Nur gingen wir noch einen Schritt weiter. Wenn Imelda alles oder zumindest viel über die Conollys wußte, dann würde sie auch über Johnny Bescheid wissen. Es konnte durchaus sein, daß er ebenfalls diesen Griff aus dem Dunkel erlebte, und deshalb wollte wir mit ihm sprechen. Er war ins Kino gegangen, um sich den Film Independence Day anszuschauen, und wir wollten ihn abholen.
Sheila schaute auf die Uhr. »Die Vorstellung muß doch bald beendet sein«, flüsterte sie.
»Ist sie auch.«
»Es dauert mir einfach zu lange, John, verstehst du das?«
»Wir müssen warten. Was willst du tun? Durch ein dunkles, vollbesetztes Kino schleichen und deinen Sohn suchen?«
»Nein, das ist auch nicht gut.«
»Eben.«
Ein Paar hatte uns zugehört. »Es sind noch knapp sechs Minuten«, sagte der junge Mann. »Wir wissen das, denn wir haben den Film schon dreimal gesehen.«
»War er so gut?« fragte ich.
»Super«, antwortete seine Begleiterin, eine junge dunkelhäutige Schönheit mit Rastazöpfen.
»Geht denn alles gut aus?«
»Klar. Die Gringos brauchen doch ihr Erfolgserlebnis. Und der Präsident ist auch ein großer Held.«
»Gut für Clintons Wiederwahl«, meinte ihr Partner.
Dann gingen sie auf den Ausgang zu. Sheila, die neben mir stand, ballte die Hände zu Fäusten. »Was interessiert mich Clinton? Mir geht es um Johnny.«
»Den du bald sehen wirst.«
»Hoffentlich!« Sie schaute mich aus großen Augen an und machte sich anschließend auf den Weg. Zum Ausgang ging sie nicht, aber sie konnte auch nicht bei mir bleiben.
Sheila durchschritt den großen Vorraum wie eine Gefangene ihre Zelle.
Sie ging immer denselben Weg hin und wieder zurück.
Auch mir fiel das Warten schwer, und ich beschäftigte mich mit dem Gedanken, ob Optimismus überhaupt angebracht war. Ich konnte nicht so recht daran glauben, obwohl ich nicht zu den Pessimisten zählte.
Irgendein Gefühl oder möglicherweise schon ein Wissen sagte mir, daß etwas schiefging.
Mit Sheila sprach ich nicht darüber, denn sie war schon nervös genug.
Einen hellen Mantel hatte sie übergestreift, ihn aber nicht geschlossen, und die Hände hatte sie in den Außentaschen vergraben. So ging sie noch immer auf und ab. Den Blick mal zu Boden gerichtet, dann wieder fragend auf mich, aber noch wußte ich keine Antwort oder Erklärung.
Eine schmale Seitentür öffnete sich. Ein Mann im Jeansanzug, die hellblonden Haare zum Zopf geflochten, ging zu den beiden großen Türen und öffnete sie.
Der Film war zu Ende. Wir hörten das Klatschen der Zuschauer. Da waren wohl alle begeistert.
»Endlich«, erklärte Sheila stöhnend. Sie blieb jetzt dicht neben mir stehen. Aus dieser Perspektive konnten wir beide Türen im Auge behalten.
Die ersten Besucher strömten hervor. Junge Menschen, oft noch Jugendliche.
Es war ihnen anzusehen, wie sie der Streifen mitgenommen hatte, denn sie diskutierten heftig darüber.
Um besser sehen zu können, hatte ich mich auf die Zehenspitzen gestellt. Unter den ersten Zuschauern fand sich Johnny nicht. Es drängten immer mehr nach draußen. Die Vorstellung schien ausverkauft gewesen zu sein. Warme Luft strömte aus dem Kinosaal, angereichert mit dem typischen Popcorngeruch, den ich nicht mochte.
Sheilas Nervosität nahm zu. Auch sie stand auf Zehenspitzen. »Himmel, wann kommt er
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