0985 - Libertys Tränen
Gefangener in sich selbst, direkt in das Schaufenster der Angelboutique rechts von ihm. Das Fenster war plötzlich von einem grünlich schimmernden Rahmen umgeben, und Lyle konnte sich in ihm spiegeln.
»So ist’s brav«, sagte sein Spiegelbild spöttisch. »Du musst lernen, zu gehorchen, Lyle.«
»W… Was willst du?«, flüsterte der Kurator entsetzt. Er sah das dämonische Funkeln in den Augen seines Ebenbildes. Dieses Wesen dort in der Scheibe mochte aussehen wie er, doch es hatte nichts mit ihm gemein. Gar nichts. »Wer bist du?«
Der zweite Lyle lächelte. »Sieht man das nicht? Ich bin du, mein Bester.«
»Nein, niemals. Nein.«
»Und was ich will…« Der Spiegler lachte erneut auf und deutete in Richtung Bay. »Sah man das nicht eben? Die Risse kommen näher, Lyle. Das spürst doch sogar du. Und es ist gut so. Sogar sehr gut. Bald ist der Moment gekommen.« Sein unheimlicher Blick fiel wieder auf Lyle. »Ich an deiner Stelle würde mich bereithalten. Mich… und die Frau!«
Ein Zwinkern noch, dann verging das Glühen, und das Spiegelbild verschwand.
Zurück blieb nur Lyle, zitternd und wimmernd in den Schatten.
***
City Hall befand sich in der Murray Street, einer kleinen Querverbindung zwischen Broadway und Park Row, die mitten durch eine der wenigen Grünanlagen Lower Manhattans führte. Ground Zero war nur ein paar Blocks entfernt von hier, die Brooklyn Bridge quasi direkt nebenan, und im Büro des Bürgermeisters im zweiten Stock des dreigeschossigen Prachtbaus begann die Happy Hour heute ein wenig früher als normal. Genauer gesagt bereits zum Frühstück.
John Roslyn hatte die Zimmertür kaum hinter sich geschlossen, da trat er auch schon auf den Beistelltisch mit den Alkoholika zu und schenkte sich einen großzügig bemessenen Scotch ein.
»Guck mich nicht so an«, maulte er in Richtung des an der Wand hängenden Gemäldes von Thomas Willett, des ersten Mannes auf diesem hehren Posten. »Hättest du jeden Morgen Napalm in der Nase gehabt, hättest du auch getrunken.«
Dieser Scheißgeruch! Jeden verdammten Morgen dasselbe Spiel. Wann immer John erwachte, hatte er den Eindruck, die Napalmwolken von damals zu riechen. Aus ’Nam.
»Die Scheiß-Charlies mit ihren Schlitzaugen haben uns ganz schön zugesetzt«, sagte Roslyn zu seinem in Öl gemalten Amtsvorgänger, den das nicht interessierte. »Monatelang war ich da unten. Monatelang. Aber kümmert das hier noch wen? Meinst du, die Schmierfinken von der Times nehmen dich weniger hart ran, nur weil du ein Veteran bist und diesem Land schon gedient hast, bevor sie überhaupt auf der Welt waren, hä? Einen Dreck machen die.«
Die Titelseite der New York Times hatte John wie üblich im Auto auf dem Weg zur Arbeit studiert. Weiter war er heute nicht gekommen, denn der unsinnige Tadel, den die Redakteure dieses Blattes abermals über ihn ausschütten zu müssen glaubten, hatte seinen Hass auf diese Stadt und ihre Bevölkerung einmal mehr geschürt. Warum glaubte eigentlich jeder dahergelaufene Trottel, der zwei Sätze aneinanderreihen konnte, er habe Ahnung von Kommunalpolitik und könne sich daher eine eigene Meinung erlauben?
»Das sind Kinder da draußen«, erklärte John dem alten Willett und nickte in Richtung des Fensters, von dem aus er die Fußgänger im City Hall Park und jenseits der Baumwipfel sogar die Hochhäuser am Übergang von Park Row und Centre Street sehen konnte. »Unselbstständige Kinder, die durch Geplärr auszugleichen glauben, was ihnen an Grips fehlt.« Gott, wie er diese Stadt hasste! Jeden Tag hatte sie etwas anderes. Wie ein verwöhntes kleines Kind buhlte sie stets auf Neue um seine Aufmerksamkeit und gab sich doch weit autarker, als sie eigentlich war.
Das Summen der Gegensprechanlage auf seinem schweren Eichenschreibtisch riss John aus seinen Gedanken. »Mr. Mayor, ich habe das NYPD für Sie in der Leitung. Ein Lt. Steven Zandt, Sir. Er sagt, es sei dringend.«
Klar sagt er das, seufzte John innerlich und trat zum Tisch. Das sagen sie alle. Aber ist es das je? Irgendwann würde er dem blonden Busenwunder, das man ihm als Sekretärin vorgesetzt hatte, mal beibringen müssen, wie man Nein sagte. Obwohl… Schneide ich mir damit nicht ins eigene Fleisch?
Leise lachend drückte er die Sprechtaste. »Stellen Sie durch, Cleavage.«
Cleaver, verdammt! Sie heißt Cleaver, nicht Ausschnitt. Merk dir das mal.
»J… Ja, Sir.«
Es knackte in der Leitung. John nahm noch einen Schluck Scotch, dachte an die Mechanismen
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