0987 - Das Seelenloch
war nicht zu klein, denn der Mensch, der sich in einem rasenden Wirbel befand, schrumpfte und er glitt dabei immer höher. Die andere Kraft zerrte ihn dem Seelenloch entgegen.
Es war dem Zustecher unmöglich, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Er wußte nicht mal mehr, ob er überhaupt noch ein Mensch war. Dennoch huschten Gedanken durch seinen Kopf, die ihm aber auch nicht weiter halfen. Er stellte sich die Frage, ob er noch ein Mensch war. Er konnte immerhin denken.
Das Seelenloch war wie ein mit Magie aufgeladener Magnet. Es zog ihn an sich, und es gab nichts, was ihn noch stoppen konnte. Er jagte unter die Decke, er hatte das Gefühl, sich den Kopf stoßen zu müssen, das trat nicht ein.
Dann kippte er nach hinten weg.
Er schwebte über dem Bett. Er war keine feste Gestalt mehr. Der Körper war bereits in der Auflösung begriffen. Der Betroffene schrie wie am Spieß.
Nein, es war nur der Wille da, schreien zu wollen, aber die Grenze konnte er nicht überschreiten.
Das Grauen ließ ihm keine Chance. Etwas streifte ihn von zwei Seiten. Es war heiß und kalt zugleich.
Dann war er weg!
Einfach so.
Etwas hatte ihn geschluckt. Es war kalt, es war unendlich, und es war schwarz, so schrecklich schwarz…
***
Es kam selten vor, daß Gertrud Huber vor ihrem Mann erwachte, an diesem frühen Morgen war es so. Da schnarchte Karl noch neben ihr und lag in einem tiefen Schlaf.
Sie blieb auf dem Rücken liegen, schaute zur Decke, die sie in der Dunkelheit kaum erkennen konnte.
Aber sie sah den Ausschnitt des kleinen Fensters, hinter dem sich der frühe Morgen als grauer Ausschnitt abzeichnete. Wenn sie genauer hinsah, erkannte sich auch die Bewegungen, und sie wußte, daß es der frühmorgendliche Dunst war. Er kletterte immer die Wände hoch, wenn er die Täler verlassen hatte - um sich später aufzulösen.
Auch wenn alles so normal aussah, es war für sie trotzdem eine schlechte Nacht gewesen. Sie hatte zwar tief geschlafen und war nicht erwacht, aber im Unterbewußtsein hatte sie gespürt, daß in ihrem einsamen Haus etwas vorgegangen war, mit dem sie nicht zurechtkam. Die Frau dachte darüber nach und fing an zu frieren. Deshalb zog sie die Decke hoch und über ihre Schultern. Im Magen spürte sie einen Druck. Dieses schlechte Gefühl kannte sie. Es trat immer dann ein, wenn sich gewisse Dinge, auch welche, die sie nicht sah, aus dem Rahmen bewegten.
Und ihr Haus war nun mal von einem Toten belegt!
Fritz Huber, der tote Vater ihres Mannes, wurde unten aufgebahrt. Drei Tage sollte er dort liegen. Er hatte darauf bestanden, daß die alte Tradition eingehalten wurde. So hatte sie das Seelenloch öffnen müssen. Kurz vor dem Tod hatte ihr Schwiegervater darauf bestanden, und Karl, ihr Mann, hatte sich daran gehalten.
Obwohl sie lange auf Bürstegg lebte, konnte sich Gertrud Huber mit diesen Traditionen nicht abfinden. Daß es keinen Strom gab, damit hatte sie sich abgefunden. In den Sommermonaten konnte sie auch damit leben. Da wurde eben Feuer im Herd gemacht, denn die Flammen wärmten auch den Kessel mit dem Wasser, aber einen Toten zu beherbergen ging schon an die Grenzen ihrer Kraft.
Dennoch hatte sie sich nicht dagegen wehren können. Alte, wenn auch schaurige Traditionen durften eben nicht gebrochen werden, daran mußte auch sie sich halten.
Die zweite Nacht war vorbei, und eine Nacht mußte der Tote jetzt noch dort liegen. Tagsüber war es nicht so schlimm, in der Nacht aber, auch wenn sie die Leiche nicht sah, kamen ihr die Gedanken.
Glücklicherweise war es doch recht kühl, vor allen Dingen hier oben auf der Höhe, da fing die Leiche nicht so schnell an zu riechen.
Gertrud stöhnte leise vor sich hin, faltete die Hände und betete, daß die Zeit rasch vorbeiging.
Das Stöhnen war gehört worden. Rechts neben ihr bewegte sich Karl, und auch sein Schnarchen verstummte.
Er lag wach, das wußte sie. Es war zu merken, denn er hielt für einen Moment den Atem an, bevor er fragte: »Gertrud?«
»Ja…«
»Du bist also wach?«
»Schon länger.«
»Und warum?« flüsterte er aus dem Dunkel.
Gertrud ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie hatte ihre Hände flach auf die Bettdecke gelegt und schob sie hin und her. Das leise Rascheln sollte sie beruhigen, machte sie aber eher nervös, wie auch ihren Mann, der seine Frage wiederholte.
»Etwas ist anders gewesen«, sagte sie flüsternd.
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß es nicht.«
»Unsinn!« brummte Karl aus dem Dunkel. »Es war eine Nacht wie
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