0987 - Das Seelenloch
standen auf dem Fleck. Sie waren erstarrt. Ihre Gesichter glichen Masken, über die jemand Puder gestreut hatte.
Ohne es zu merken, hielten sie sich gegenseitig an den Händen fest. Auch sie waren von der Gänsehaut erwischt worden, die sich einfach nicht stoppen ließ.
Das schreckliche Heulen wollte und wollte nicht aufhören. Es veränderte sich auch in der Tonart und hörte sich manchmal an, als dränge es ihnen aus einer Knochenflöte entgegen. Furchtbare Laute, die sie starr machten und dafür sorgten, daß die Angst noch höher in sie hineinstieg und ihre Kehle umklammerte. Sie hatten Mühe, überhaupt Luft zu holen, und deshalb rangen beide nach Luft.
Unterschiedliche Laute flossen durch die Totenkammer. Hinter der Luke war nichts zu sehen. Nicht mal der graue Himmel. Dafür die absolute Leere. Ein Weg, der nicht mehr in dieser Welt blieb, sondern ins Jenseits führte. Auf der Strecke dorthin lauerten die Qualen, die Marter, die eine Seele zur Verzweiflung bringen konnten.
Das düster und in unterschiedlichen Tönen klingende Heulen wurde allmählich leiser, wobei es kaum etwas von seiner schauerlichen Akustik verlor.
Aber es verstummte, als wären die Qualen der armen Seele endgültig vorbei.
Gertrud und Karl Huber hörten es trotzdem noch. Es klang in ihren Ohren nach. Das schauerliche Geheul schwang durch ihre Köpfe, als wollte die Botschaft sie nie mehr loslassen.
»Was war das?« Karl hatte die Frage flüsternd gestellt. Normal konnte er nicht mehr sprechen.
»Nichts, Karl, nichts.« Gertrud wollte ihren Mann beruhigen. Er war schlimmer dran als sie, denn es war schließlich sein Vater, der dort auf dem Totenbett lag.
»Eine Seele…«
»Möglich.«
»Aber das war noch nie. Wer hat Vater denn so ge…?«
»Das kriegen wir nicht heraus, Karl. Komm, wir müssen es melden.«
»Ja«, sagte er und nickte, aber er blieb noch immer stehen, und seine Frau mußte ihn zurückzerren, damit er endlich über die Schwelle in den Gang taumelte. Er weinte wieder, und Gertrud schloß die Tür. Sie wunderte sich über sich selbst, wie stark sie noch in diesen Augenblicken war, aber auch für sie gab es Grenzen. Wenn sie noch länger in diesem Haus blieb, würde der Zusammenbruch irgendwann erfolgen, das stand fest.
Deshalb drehte sie sich vorsichtig um, und sie ging dorthin, wo der gemauerte Kamin stand. Auf der Bank davor hatten sie einen Teil ihrer Kleidung abgelegt, bevor sie am Abend zu Bett gegangen waren.
»Wir müssen uns anziehen, Karl.«
Er nickte nur.
»Bitte, Karl!«
Huber gehorchte, aber seinem Gesicht war anzusehen, daß er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war.
Gertrud dagegen plagte die Angst. Sie hatte das Gefühl, erst am Anfang dieser schrecklichen Dinge zu stehen…
***
Das Frühstück im Hotel war wie immer sehr gut, und Jane Collins hätte es auch genossen, wenn sie nicht von diesen stechenden Kopfschmerzen geplagt worden wäre.
Sie saß rechts vom Eingang, an dem Platz, von dem aus sie den großen, gemütlichen Raum gut überblicken konnte. Nicht weit entfernt und auch an der rechten Seite stand der Tisch der Familie Moosegger. Ihnen gehörte das Hotel. Die Besitzerin, eine Witwe, leitete es zusammen mit ihren beiden erwachsenen Kindern.
Die Vorgänge der letzten Nacht ließen sich nicht so einfach verdrängen. Obwohl es Jane nicht unbedingt wollte, mußte sie immer darüber nachdenken.
An diesem Morgen schien das Hexerl keinen Dienst zu haben. Zumindest hatte Jane sie noch nicht gesehen, aber das hatte nicht viel zu sagen. Außerdem war es noch sehr früh.
Der Kaffee stand vor ihr. Jane Collins trank ihn in kleinen Schlucken. Daß sie auch etwas essen mußte, war klar, aber das würde sie später tun.
Erst sollte der Kaffee die Kopfschmerzen vertreiben.
Draußen hatte sich der Tag längst ausgebreitet. Der Ort war auch nicht mehr so still, und eine blasse Sonne stand bereits hinter den Bergen. Sie schickte ihre Strahlen in den Dunst hinein und würde ihn sicherlich bald auflösen.
Jane schenkte die zweite Tasse voll. Sie trank den Kaffee schwarz. Milch und Zucker wollte sie nicht. Diesen Muntermacher trank sie pur. Zudem schmeckte er ihr sehr gut, was in Hotels nicht unbedingt immer der Fall war.
»Guten Morgen!« Die frische Stimme einer Angestellten riß Jane aus ihren Gedanken. Es war nicht Hexen-Karin, sondern eine Kollegin, etwas draller von der Figur, mit ebenfalls schwarzen Haaren, die halblang geschnitten waren. Sie hatte ein nettes Gesicht und lustige
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