0987 - Das Seelenloch
noch.«
Gertrud Huber erschrak. »Aber der ist doch tot…« Sie wollte noch etwas sagen, sah allerdings meinen zweifelnden Ausdruck im Gesicht und hauchte: »Oder ist er das nicht?«
»Wir müssen damit rechnen, daß er noch existiert.«
»Als Toter ist…«
»Er ist kein richtiger Toter. Ein lebender Toter. Er irrt jetzt allein durch die Gegend. Seine Quelle ist versiegt, der Rückweg wurde geschlossen. Wer immer ihm geholfen hat, es gibt diese Gestalt nicht mehr, aber ich kann mir vorstellen, daß er nicht allein bleiben will, sondern nach Hilfe sucht.«
»Aber nicht bei uns«, sagte Karl Huber schnell.
»Daran habe ich auch nicht gedacht. Ich glaube auch nicht, daß er sich noch in Sichtweite Ihres Hauses aufhält. Ich kann mir vorstellen, daß er in den Ort gegangen ist.«
»Nach Lech?«
»Wohin sonst, Herr Huber?«
»Ja, aber…« Er strich mit seinen breiten Händen quer durch das Gesicht. »Es ist mein Vater, verstehen Sie? Ich kann mir nicht vorstellen, daß er zu so etwas fähig ist.«
»Er ist kein Mensch mehr, sondern eine Kreatur. Er ist auch kein kranker Mensch, der Mitleid verdient. Sie müssen ihn als Geschöpf der Hölle angehen, so schwer Ihnen das auch fallen wird, aber es gibt keine andere Möglichkeit.«
Karl Huber nickte, obwohl ich ihn bestimmt nicht hatte überzeugen können. Gertrud legte ihm die Hand auf die Schulter, sie wollte ihren Mann trösten, der mit den Tränen kämpfte.
»Wo könnte er hingegangen sein?« fragte ich. Die Worte waren mehr an mich selbst gerichtet, aber Jane Collins hatte mich gehört.
»Wo gehen Untote schon hin, John?«
Ich schaute sie für einen Moment an. In den Augen schien ich die Antwort lesen zu können, aber ich sprach sie selbst aus. »Entweder zu irgendwelchen Menschen oder auf einen Friedhof.«
»Und den gibt es in Lech. Er befindet sich neben der Kirche. Aber du hast noch etwas gesagt, John.« Sie sprach jetzt schnell, als wollte sie mich überzeugen. »Er braucht Hilfe, und du hast die Menschen erwähnt. Es gibt jemanden, mit dem er als Mensch oft zusammen gewesen ist, der von ihm gelernt hat, denn Huber hatte ja den Draht zur anderen Welt. Du weißt, wen ich meine?«
»Natürlich. Die Bedienung aus dem Hotel.«
»Richtig, John, Karin.«
»Dann los!«
Die beiden Hubers wollten nicht mitfahren. Wir aber eilten zu unserem Wagen. Als ich startete und das blasse Licht der Scheinwerfer einen hellen Teppich auf den Hang vor uns warf, fragte Jane:
»Wohin zuerst, John?«
»Zu dem Ziel, das auf dem Weg liegt.«
»Das ist der Friedhof…«
***
Hexerl - er hat Hexerl gesagt! schoß es Karin durch den Kopf. Er hat mich gemeint. Er hat mich erkannt, obwohl er schon tot ist. O Gott - tot! Wie kann ein Toter sprechen?
Nach dieser Frage kam der jungen Frau erst richtig zu Bewußtsein, welchen Horror sie hier auf dem Friedhof erlebte. Sie spürte den Schwindel, sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie hatte den Mund weit aufgerissen, rang nach Atem und wünschte sich weit, weit weg. Nur nicht auf dem Friedhof bleiben, umgeben von Gräbern, Steinen und Kreuzen - und vor sich diese Gestalt.
Halb zerhackt, mit gestocktem Blut besudelt und einem Gesicht, das an Schrecken kaum zu überbieten war, aber diese Gestalt wußte Bescheid und streckte Karin beinahe zärtlich die Hände entgegen.
»Du kennst mich, ich kenne dich, wir bleiben zusammen.« Er würgte jedes Wort hervor, und er setzte seinen Vorsatz in die Tat um.
Noch näher kam er.
Karin fühlte sich ihm nicht gewachsen. Diese Gestalt nahm beinahe ihr gesamtes Blickfeld ein. Ob Hexe oder nicht, das war keine Spielerei mehr, mit der sie kokettieren konnte, denn hier erlebte sie einen blutigen Ernst, und sie wußte auch, daß ihr der lebende Tote keine Chance geben würde.
Weg! Flucht! Fort von hier!
Es war der einzige Gedanke, der sie beherrschte. Aber wohin? Den Friedhof verlassen? Es wäre eine Möglichkeit gewesen, nur würde er sie sicherlich eingeholt haben, bevor sie das Tor überhaupt nur erreichte. Außerdem war er schon sehr nahe. Sie konnte ihn riechen. Er stank nach Blut und altem Fleisch, hob jetzt den rechten Arm an und machte den Eindruck, als wollte er ihr die Hand auf den Kopf schlagen.
Etwas in ihr riß.
Plötzlich konnte sie sich wieder bewegen. Die Starre war verschwunden. Bevor die Hand sie noch traf, hatte Karin sich blitzschnell gedreht, wandte ihm den Rücken zu und startete.
Die Pranke erwischte sie trotzdem. Die Finger kratzten am hinteren Stoff des Mantels
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