099 - Die Lady mit den toten Augen
fuhr
schnell. Er benutzte die Mitte der Straße, die ihm allein gehörte. Selbst zur
normalen Verkehrszeit waren hier kaum Autos anzutreffen. Sie erreichten sicher
die Ausläufer von Monmouth.
Burke
steuerte sicher durch die Straßen. Ihr Ziel war klar: das Neubaugebiet an der
entgegengesetzten Peripherie, Richtung Black Mountains, hatte ihr Interesse
geweckt.
„Hoffentlich
ist es noch nicht zu spät“, meinte Burke, ohne den Blick von der Straße zu
wenden.
„Ich glaube
es nicht“, erwiderte der Lord. Sein ovales, längliches Gesicht war völlig
regungslos wie aus Marmor gemeißelt.
Er mußte
daran denken, daß sie in der letzten Zeit oft diese Streifzüge durch die nähere
und weitere Umgebung unternommen hatten, um sich über die Gewohnheiten
einzelner Bewohner der Umgebung zu orientieren. Auf diese Weise waren sie auch
auf Edith Shrink gestoßen, die abends immer die
Abkürzung durch den Wald nahm, um nach Abergaveny zu
kommen. Da der Wunsch der Lady Gaynor nach fremden Augen immer größer wurde,
ließ sich der Bedarf allein durch die Anwesenden in der Anstalt nicht mehr
decken.
So hatte Lord Billerbroke sich entschlossen, außerhalb des Castle
den Bedarf zu holen.
Bei ihrer
Suche nach neuen Möglichkeiten waren sie auch auf das Paar gestoßen, das nach
Einbruch der Dunkelheit in Selbsthilfe noch Hand an den Neubau legte. Burke
hatte bei zahllosen Abstechern herausgefunden, daß das Paar immer abends auf
dem Bau war und bei Lampenlicht arbeitete. Sie verbrachten ihre ganze Freizeit
dort.
Daß sich die
Arbeit oft bis Mitternacht ausdehnte, war keine Seltenheit. Das erstaunlich
warme Wetter schaffte die Möglichkeit dazu, auch die späten Stunden noch zu
nutzen. Burke steuerte den Rolls-Royce durch die schmalen Straßen. Die
Rohbauhäuser standen zu beiden Seiten.
Überall auf
den unfertigen Bürgersteigen stand und lag etwas herum. Bretter und Kisten,
Kästen und farbverschmierte Eimer.
Alles lag im
Dunkeln, bis auf ein einziges Haus.
Burke
grinste. „Sie sind noch da. Hätte mich auch gewundert, wenn wir es anders
angetroffen hätten. Wer aus eigener Initiative ein Haus baut, muß Hand anlegen,
um die Baukosten zu senken. Dann wollen wir uns mal ’ ranpirschen .
Bringen wir die Sache schnell über die Bühne.“
„Vorsicht“,
warnte Billerbroke . „Sie sind zu zweit, einer darf
vom anderen nicht bemerken, daß etwas passiert.“
„Wir werden
das Kind schon schaukeln.“
Burke stellte
den Motor ab. Eine Minute lang saßen die beiden Männer im dunklen Auto. Zwei
Häuser weiter vorn sahen sie den schwachen Lichtschein
im Innern des Rohbaus. Ein Schatten bewegte sich an der Wand, der Schatten
einer Frau.
Das war im
Parterre. Ein bewegliches Licht wies darauf hin, daß Sie jetzt in den Keller
ging. Kurz darauf war ein Licht unten im Keller, ein zweites im Ground Floor , zwei Fenster weiter
links.
Burke und der
Lord sahen sich an. Der Verbrecher griff nach der Ledertasche. Der ehemalige
Häftling und der Lord verließen das Auto und näherten sich lautlos dem Bau.
Leise
Geräusche drangen an ihr Ohr.
Sie kamen aus
dem Ground Floor und aus
dem Keller.
Der Butler
und der Lord wußten, daß bisher immer zwei Personen - eine junge Frau und ein
junger Mann - abends nach dem offiziellen Arbeitsschluß anzutreffen waren. Manchmal
hatten, sie kurze Zeit zusammengearbeitet, manchmal an zwei verschiedenen
Stellen. Burke und Desmond Billerbroke waren sich
nicht sicher, wie sie die beiden heute abend antreffen würden. Sie mußten den
günstigsten Augenblick abwarten.
Dicke,
schmale Bohlen führten über herumliegende Steine, Mörtel und Zementtüten
hinweg, die wahllos verstreut lagen. Das Gelände rund im den Rohbau sah aus wie ein Schlachtfeld. Das Brett schwang unter ihren Schritten,
als sie sich dem höher gelegenen Eingang näherten, zu dem noch keine Treppen
hochführten.
Unbemerkt
erreichten Burke und Lord Billerbroke den Raum.
Sie sahen ein
einfaches Holzgestell. Darauf stand eine junge Frau. Sie trug einen einstmals
dunkelblauen, nun von Tünche und Zement verschmierten Arbeitsanzug, der für
einen Mann zugeschnitten war, der mindestens zwei Zentner wog.
Mit einem
Turban um den Kopf, um ihr Haar vor Dreck und Staub zu schützen, drehte sie
ihnen den Rücken zu. Sie bemerkte nicht die beiden Männer, die lautlos wie
Schatten näherkamen und Böses im Schilde führten. Die Frau arbeitete wie ein
Mann, und man sah an ihren Bewegungen und der Schnelligkeit, mit der sie im
Licht dreier
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