1 - Schatten im Wasser
grinsender Verschlagenheit. Sie begriff sofort, wer ihr das Insekt in die Tasse gesetzt hatte, und sann auf Vergeltung. Heimlich entwendete sie ein Fläschchen mit Rizinusöl aus dem Gepäck ihres Vaters, lenkte den Matrosen 37
ab und tat zwei Löffel voll in sein Essen. Die Rache war süß gewesen.
Tagelang hing der Mann danach am Tampen über Bord und musste sich entleeren. Doch jetzt entdeckte sie ihn. Er war wach und auf seinem Posten. Ohne Zweifel hätte er das Kanu ihres Vaters bemerkt. Ihr Herz sank.
Gespenstische Schreie, klagend wie die Rufe verlorener Waldgeister, hallten aus der Tiefe des undurchdringlichen Urwalds und endeten in einem lang gezogenen, irren Lachen. Beklommen umfasste sie ihre Schultern, meinte, auf einmal menschliche Laute zu vernehmen und das metallische Klirren von Sklavenketten. Sie dachte mit Unbehagen daran, dass auch der Kapitän derart Merkwürdiges gehört hatte. Oder war es eine Täuschung?
Lachten nur die Makaken, diese flinken Äffchen, sie aus? Im Urwald verzerrten sich al e Laute, das menschliche Ohr wurde leicht in die Irre geführt. Angespannt ließ sie ihren Blick in der zunehmenden Helligkeit am Urwaldsaum den Flusslauf bis zur Biegung hochgleiten. Stil und schwarz lag der Wald vor ihr, uneinnehmbar wie eine Festung. Das gegenüberliegende Ufer konnte sie nicht ausmachen. Der Kongo war hier, in der Nähe seiner Mündung, schon weit wie ein Meer, und gazefeiner Morgennebel verschleierte ihre Sicht. Es lag etwas Bedrohliches in der Luft, etwas Böses, wie der Aashauch, der aus dem Schlick der Sümpfe stieg.
Sie waren tückisch, diese Sümpfe, rissen ihren schwarzen Rachen auf, schlangen die in sich hinein, die unvorsichtig in sie eindrangen, und ließen sie nie wieder frei. Mensch und Tier verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Schlund dieser gefräßigen Ungeheuer. Die Sümpfe bedeckten einen gigantischen Friedhof von Gebeinen. Krankheiten stiegen wie Dämpfe aus dem stinkenden Morast, und man hatte ihr erzählt, dass dort Krokodile lauerten, die so groß waren, dass ein Mensch in ihrem ge-
öffneten Rachen stehen konnte.
»So groß wie ein Schiff sind sie«, hatte ihr Vater gedröhnt und ihr dabei Pfeifenrauch ins Gesicht geblasen. Aber er hatte gezwinkert, und sie hatte gelacht, es nicht ernst genommen. In seinen Erzählungen waren die Dinge immer überlebensgroß;
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sie hatte gelernt, sie in Gedanken auf ein glaubhaftes Maß zu verkleinern.
Sie starrte übers Wasser. Ihre überreizte Einbildung sah tanzende Dämonen, wo Nebelschleier übers Wasser trieben, hörte Stimmen, wo es keine geben konnte. Sie erschrak jählings, als ein Kanonenschlag, wie sie glaubte, die Luft erzittern ließ, dem eine ohrenzerreißende Kakophonie von Vogelschreien und das irrwitzige Gekreisch aufgeschreckter Affen antworteten. Erst da erkannte sie den hallenden Ruf der Hornraben, die jeden Morgen die Welt am Fluss weckten, und atmete auf.
Doch sie konnte sich nicht beruhigen. Unwil kürlich schätzte sie die Länge des Schiffs ab. Fünfzig oder sechzig Fuß. Ein Krokodil? Gänsehaut überlief ihre Arme, und sie erinnerte sich, dass flussaufwärts tosende Stromschnellen den Wasserweg versperrten. Boote mussten auf dem Landweg um dieses Hindernis geschleppt werden, durch den feindlichen Wald, der Gefahren barg, von denen Europäer nichts ahnen konnten. Wo war ihr Vater? Lebte er noch? Sie stützte ihren Kopf auf ihre gefalteten Hände.
»Lieber Gott, hilf mir«, betete sie leise, »hilf meinem Vater ... lass ihn gesund zu mir zurückkehren ... beschütze ihn.« Es war ein Zeichen, wie schlimm es um sie stand. Ihr Verhältnis zu ihrem Gott war seit dem frühen Tod ihrer Mutter, den sie als großes Unrecht empfand, denn ihre Mutter war ein Engel gewesen, nicht das beste, und nur wenn sie in wirklicher Not war, flehte sie ihn um Hilfe an. »Bitte beschütze ihn und César«, flüsterte sie.
Immer hatte ihr Vater alle Gefahren mit einem Lachen abgetan. Vor einiger Zeit hatte er sie auf eine kurze Expedition mitgenommen, und sie war im zwielichtigen grünen Dämmerlicht, das unter dem Baldachin der Urwaldgiganten herrschte, in die Krakenarme ellenlanger Lianen geraten, hatte sich darin verwickelt und war gestolpert. Halt suchend griff sie nach einem trockenen Zweig, der sich plötzlich in eine aufgebracht zischende Schlange verwandelte. In Panik hatte sie das Reptil von sich geschleudert und dabei Schwärme von just den Schmetterlingen verscheucht, die ihr Vater studieren
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