1 - Schatten im Wasser
laufen.
Catherine richtete sich auf. Was erlaubte sich dieser rüpelhafte Mensch?
Betrachtete er sie etwa als Freiwild? Abgesehen von den groben Kerlen an Bord, die nicht zählten, war sie bisher als Tochter von Louis le Roux vom anderen Geschlecht nur mit vorzüglicher Höflichkeit, sogar mit Ehrerbietung behandelt worden, wie es ihrem Stand zukam. Ein solches Benehmen war ihr neu und außerordentlich unangenehm. »Danke, aber das wird nicht nötig sein. Wir haben Freunde in Kapstadt«, näselte sie kühl und würdigte ihn danach keines Blickes mehr.
Dann endlich spürte sie nach den Wochen auf See wieder festen Boden unter den Füßen. Am liebsten wäre sie auf die Knie gegangen, um die rote Erde zu küssen, so dankbar war sie, dass sie das Schicksal verschont hatte. Sogar Wilma bekam wieder Farbe ins Gesicht. Der Hafenmeister selbst, ein großer, beleibter Mann mit dröhnendem Lachen, wilder schwarzer Mähne und schwarzem Vollbart, sorgte dafür, dass zwei Stunden später ihr
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Gepäck in eine von James Melvil es Mietdroschken geladen wurde, und wies den Kutscher an, die beiden Damen sicher zum Good Hope Guesthouse zu bringen.
»Sixpence für die Damen, Twopence für das Gepäck«, verkündete der Kutscher, und Catherine war froh über das bereitgehaltene Kleingeld.
Verstohlen tastete sie nach dem Leinenbeutel unter ihrem Rock und stellte zufrieden fest, dass er gut dort aufgehoben war. Bevor sie dem Kutscher das Zeichen zur Abfahrt gab, überreichte sie dem Hafenmeister zwei Briefe mit der Bitte, sie dem nächsten Postschiff zu übergeben. Am gestrigen Abend hatte sie an Konstantin geschrieben, sich nach seinem Wohlergehen erkundigt und seinem jetzigen Aufenthalt gefragt. Weiter berichtete sie ihm von dem Sturm vor der Südwestküste und dass sie in der nächsten Zeit in Kapstadt sein würde. Adele hatte sie nur kurz die Adresse des Good Hope Guesthouse mitgeteilt und ihr eine knappe Beschreibung ihrer bisherigen Reise gegeben.
»Ich werde mich so schnell wie möglich bei Papas Freunden, der Familie Simmons, vorstellen«, bemerkte Catherine zu Wilma, die durch die holprige Fahrt über die unbefestigte Straße schon wieder seekrank wurde.
»Sicherlich werden sie uns einladen, in ihrem Haus zu wohnen, bis wir wissen, was aus uns wird. So habe ich das auf meinen Reisen bisher als üblich erlebt.« Dankbar atmete sie die frische Luft ein. Es roch salzig nach Meer, Teer und Takelage, aber auch nach vergammeltem Abfall und Fisch.
Der Geruch aller Hafenstädte nach Abenteuer
und dem ewigen Kreislauf des Lebens.
*
»Sieh dir nur die Eingeborenen an, wie putzig sie aussehen!« Sie spazierte mit Wilma die lange Prachtstraße Kapstadts, die Ad- derley Street, hinunter und sog das Leben um sie herum in sich auf. Ihre Gouvernante errötete tatsächlich, schien kaum zu wissen, wohin sie ihren Blick wenden sollte.
»Putzig? Sie sind praktisch nackt. Diese Menschen haben keinerlei Sinn für Anstand und Sittlichkeit.«
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»In ihrer Kultur ist das wohl anständig und sittlich, vielleicht empfinden sie uns als genauso merkwürdig wie wir sie. Was tragen die nur auf dem Kopf? Sieht aus wie eine umgedrehte Tüte aus Stroh.« Catherine blickte einigen vorübergehenden Schwarzen nach.
»Kultur! Na, ich möchte doch bitten. Zudem scheinen viele dem Alkohol zugetan zu sein.« Wilma rümpfte die Nase und stieg mit gerafften Röcken vorsichtig über ein tiefes Loch in der schlammigen, von Pferdehufen und Wagenrädern zerstörten Straße. Es musste vor nicht allzu langer Zeit geregnet haben. »Und stinken tut es auch. Mir scheint, die kippen ihre Abwässer hier einfach in den Kanal. Herrgott, und da sind Ratten!«
Catherine blieb auf einer der zierlichen Fußgängerbrücken stehen, die den breiten Kanal überspannten. »Sonst wüssten wir ja gar nicht, dass wir in Afrika sind, außerdem ist dieser Zustand in Europa auch nicht gerade selten. Hier sieht es doch fast aus wie in einer europäischen Stadt im Frühling. Sieh doch nur.«
Sie zeigte auf die jungen Eichen und Seestrandpinien, die die Adderley Street säumten, auf die prächtigen Häuser mit den kleinen, blumengefüllten Vorgärten. Mit glänzenden Augen musterte sie eine Gruppe ansehnlich gekleideter Damen und Herren, die zu Fuß daherschlenderten. Als sie in die Strand Street einbogen, entdeckte sie zu ihrem Entzücken einen Hutmacher und zwei Schneidereien, deren Auslagen ihr als der letzte Schrei in der Mode erschienen.
Zwei betrunkene, zerlumpte Kerle
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