10 - Das Kloster Der Toten Seelen
Sarkophag. Eadulf hielt sich ein wenig abseits, tat es ihr dann aber gleich.
Auf den Überresten eines zerfallenden Skeletts und eines vermodernden Leichentuches lag ein frischer Leichnam. Man hatte den Eindruck, daß er einfach nur unsanft hineingestoßen worden war, ohne Ritual, ja selbst ohne das sonst übliche Totenhemd. Es handelte sich um die Leiche eines Mannes, der dem Anschein nach erst seit zwei, drei Tagen tot war. Er lag auf dem Rücken. Die dunklen Flecken auf seiner Brust verrieten, wie er zu Tode gekommen war: Man hatte mehrmals auf ihn eingestochen.
Entsetzen hatte Eadulf ergriffen. »Das ist kein Mönch«, stellte er fest.
Der Mann war untersetzt und muskulös, er hatte einen Vollbart und dunkle Haare. Seine Haut war dunkel, seine Statur ganz anders als die jener Britannier, die Fidelma bisher gesehen hatte. Seine Kleider bestanden aus einem ärmellosen Lederwams und lederbesetzten Hosen, die bis zu den Knien hochgerollt waren. Beine und Füße waren nackt. Er trug Armreifen aus Bronze und Kupfer, auf denen sich merkwürdige Muster befanden. Auf seinem Halsreif war ein Symbol, das einem Blitz ähnelte. Um die Taille hatte er einen Gürtel, an dem eine leere Schwertscheide hing.
Eadulf pfiff leise durch die Zähne, was er sonst nie tat.
Fidelma betrachtete ihn überrascht. Nicht nur das Pfeifen war untypisch für ihn, sondern es kam auch äußerst selten vor, daß sich Eadulf in einer Kirche nicht ehrerbietig verhielt.
»Was ist das für ein Mann?« fragte sie bestürzt.
»Ein Hwicce.«
Fidelma sah Eadulf verwirrt an.
»Die Symbole auf seinen Armreifen weisen darauf hin, daß er ein Krieger der Hwicce ist«, erklärte Eadulf.
»Jetzt bin ich nicht wesentlich klüger als zuvor, Eadulf. Ein Hwicce, sagst du? Was ist das?«
»Die Hwicce bewohnen ein Kleinkönigreich in Mercia, das an die britannischen Königreiche Gwent und Dumnonia grenzt. Die Hwicce sind eine Mischung aus Angeln und Sachsen, ein finsteres Kriegsvolk, das noch nicht zum christlichen Glauben übergetreten ist und von selbstgewählten Königen regiert wird. Kürzlich erfuhr ich, daß Eanfrith ihr Herrscher ist. Als der heidnische Herrscher von Mercia, Penda, noch am Leben war, haben sie ihn unterstützt. Für christliche Tugenden hatte er nichts übrig.«
»Also stimmt es, was man Gwnda berichtet hat«, sagte Fidelma nachdenklich. »Es sieht aus, als hätten Angelsachsen das Kloster überfallen und die Mönche als Geiseln mitgenommen.«
Eadulf neigte sich vor. Er zeigte auf den Halsreif des Mannes mit dem darauf eingravierten Blitz.
»Das ist das Symbol von Thunor, unserem heidnischen Gott der Blitze.«
»Mir ist noch etwas nicht klar. Man hat den angelsächsischen Krieger in den Sarkophag des heiligen Padern geworfen. Dem Anschein nach hat man ihn im Refektorium mit einem Messer erstochen, mit dem man während des Essens das Fleisch geschnitten hat. Wenn das während des Überfalls der Angelsachsen geschehen ist, warum hat man ihn hierhergetragen und in diesen Sarg gelegt? Warum haben ihn seine Gefährten nicht mitgenommen?«
Eadulf runzelte die Stirn. »Normalerweise hätten sie das getan«, pflichtete er ihr bei. »Die Hwicce im besonderen halten nichts davon, ihre Toten den Feinden zu überlassen, wenn sie es verhindern können. Sie hätten ihn mitgenommen und auf See bestattet. Die Hwicce werden in allen angelsächsischen Königreichen immer noch voller Ehrerbietung betrachtet.«
Fidelma sah ihn neugierig an. »Warum?«
»Sie befolgen die alten Riten. Die Riten von Frigg und Tiw werden von vielen Opferhandlungen und anderen finsteren Dingen begleitet.«
»Kein Grund, ihnen gegenüber ehrerbietig zu sein«, erwiderte Fidelma spöttisch.
»Es liegt vielleicht daran, daß sie Grenzbewohner sind. Immer noch gelingt es ihnen, ihr kleines Reich vor den vereinnahmenden Übergriffen der Britannier zu schützen, die den Vorstößen der Angeln und Sachsen ausgesprochen feindselig begegneten. Sie haben sich ihren Glauben an die ursprünglichen Götter ihres Volkes bewahrt. Ihre Könige nehmen wie in alten Zeiten für sich in Anspruch, von Wotan abzustammen, dem obersten aller Götter.« Eadulf zögerte.
»Und?« fragte Fidelma. Das klang nicht gerade ermutigend.
»Obwohl sich der christliche Glaube immer mehr ausgebreitet hat, behaupten alle unsere Könige von West Saxon bis Bernicia, in direkter Nachfolge Wotans zu stehen.«
Zynisch spitzte Fidelma nun die Lippen. »Zumindest muß mein Volk nicht behaupten, von
Weitere Kostenlose Bücher