10 - Das Kloster Der Toten Seelen
angeschaut und nichts gefunden hätte. Trotzdem haben wir so manches entdeckt.«
Eadulf nickte. Sie hatte recht. Natürlich.
Sie verließen das Dormitorium. »Offenbar hat der Wind inzwischen die Tore aufgestoßen«, bemerkte Eadulf.
»Laß gut sein«, erwiderte Fidelma. »Wir werden nicht lange brauchen, um uns dort umzusehen.«
Bruder Cyngars Bericht bestätigte sich. Alles war leer. Das ganze Vieh fort. Doch Fidelma bestand darauf, jeden Winkel genau zu untersuchen, selbst das kleinste Detail war wichtig. Von den Ställen gingen sie zu der großen Scheune, die sich dahinter befand. Daneben gab es eine Schmiede. Die große Kohlenpfanne war erkaltet und voller grauer Asche. Es war schon eine Weile her, daß ein Feuer in ihr gelodert hatte. Die Scheunentore standen offen. Fidelma blickte hinein. Cyngar hatte gesagt, er sei zur Scheune gegangen, hätte hineingeschaut und dort nichts Besonderes bemerkt.
»Bruder Cyngar erzählte, im Kloster wurden nur zwei Maultiere gehalten. Warum gibt es dann in der Scheune so viele Boxen?« wollte Eadulf wissen.
»Für die Pferde der Gäste«, erwiderte Fidelma. »Das Kloster beherbergte Reisende und Pilger, die auf der Durchreise waren. Die konnten hier ihre Pferde unterstellen.«
Sie trat in die Scheune und besah sich jede einzelne Box. Als sie am Ende der Reihe zu ihrer Linken angelangt war, fiel ihr etwas auf. Ihre Augen wanderten rasch nach oben, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Eadulf stand noch immer am Eingang. Fidelma starrte gebannt auf etwas, das sich genau über seinem Kopf befand.
»Was ist los?« fragte er und dachte schon, die Wildkatze hätte sich wieder angeschlichen.
»Ich glaube, wir haben Pater Clidro gefunden«, sagte sie leise.
Rasch lief Eadulf einige Schritte in die Scheune hinein, drehte sich um und schaute ebenfalls nach oben.
An einem der Hauptträgerbalken des Daches war an einem Seil ein Flaschenzug angebracht. Ein weiteres Seil verlief von einem anderen Stützbalken zum Flaschenzug und war dort durchgezogen. Am Seilende baumelte ein älterer Mann.
Er trug die Tonsur des heiligen Johannes und eine dunkle Kutte, die ihn als einen ranghohen Mönch innerhalb der Klostergemeinschaft auswies. Die Kutte war jedoch zerrissen und voller Blut. Der Kopf des Mannes hing so, daß man daraus schließen konnte, daß das Seil ihm das Genick gebrochen hatte.
Eadulf fiel auf die Knie.
»Hol ihn runter«, sagte Fidelma leise.
Eadulf lockerte das Seil und ließ den Körper sanft auf den strohbedeckten Boden gleiten. Zu ihrer Überraschung war der Mann offenbar noch nicht lange tot.
»Ich denke, er wurde ausgepeitscht, ehe man ihn aufhängte«, murmelte Eadulf. »Als ich ihn herabließ, habe ich Risse auf der Rückseite seiner Kutte bemerkt.«
Mit Eadulfs Hilfe rollte Fidelma den Toten auf den Bauch. »Er hat ziemlich viele Peitschenhiebe erhalten«, bestätigte sie Eadulfs Vermutung. »Wer tut einem alten Mann so etwas an?«
»Glaubst du wirklich, daß das Pater Clidro ist? Und wenn er es ist, warum hat man ihn nicht umgebracht, als das Kloster überfallen und geplündert wurde? Sieh nur, das Blut ist noch ziemlich frisch. Ich würde sagen, er ist höchstens einen Tag tot.«
»Wir wissen zwar nicht genau, ob es sich wirklich um Pater Clidro handelt, aber alles spricht dafür. Dieser Mann muß dem Kloster hier angehört haben, und er trägt die Kutte eines ranghohen Bruders …« Fidelmas Stimme erstarb. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und blickte wie gebannt an Eadulf vorbei.
Schnell wandte er sich um.
Am Eingang der Scheune standen drei Männer. Der Mann in der Mitte hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Seine beiden Begleiter hielten Bögen in den Händen. Die Bögen waren gespannt, die Pfeile schußbereit. Sie zielten auf Fidelma und ihn.
K APITEL 8
Fidelma und Eadulf rührten sich nicht von der Stelle. Als sie die auf sich gerichteten Pfeile entdeckt hatten, waren sie erstarrt.
Der Mann in der Mitte lächelte sie an. Er war schlank, jung und sah gut aus. Seine zerzausten Haare waren rotbraun, seine blauen Augen blickten stechend. Er trug die Kleider eines Kriegers, ein wollenes Hemd mit einem enganliegenden Lederwams darüber, enge Lederhosen und Stiefel. An seiner rechten Seite hing ein Schwert, an seiner linken ein Jagdmesser.
Als Fidelma den goldenen Reif an seinem Hals entdeckte, wurden ihre Augen ein wenig größer. Einst hatte ein solcher Halsreif in ihrem Land angezeigt, daß sein Träger ein Held, meist ein
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